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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Ausdruck:
    »In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit und Freiheit vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewußt. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.«
    Jeder von uns dachte an die vielen deutschen Lebenswege bis zu diesem unvergeßlichen Augenblick. Wir Deutschen waren wieder zu einem Staat vereint, im Einklang und im Frieden mit allen unseren Nachbarn. Die Geschichte hatte es diesmal gut mit uns gemeint.
    Als wir uns am Vormittag des 3. Oktober zum Staatsakt in der Berliner Philharmonie trafen, klang uns allen noch die Schlußode der Neunten von Beethoven im Ohr, die wir am Abend zuvor in der Mitte Berlins am Gendarmenmarkt bei der Abschiedsfeier der DDR gehört hatten: die Freude - sie ist ein Götterfunken.
    Doch nun ging es sofort weiter mit der Arbeit. Alle schon geschafften und neu anstehenden Aufgaben waren viel zu schwer, die Folgen viel zu unübersehbar, als daß lauter fehlerfreie Lö-sungen
erwartet werden durften. Das Menschenmögliche geschah.

    Nach meiner Ansprache beim Staatsakt zur deutschen Vereinigung am 3.Oktober 1990 in der Berliner Philharmonie. Links Sabine Bergmann-Pohl, zuletzt Staatsoberhaupt der DDR, rechts neben Bundeskanzler und Hannelore Kohl der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière.
    Jeder redete mit. Kritisiert wurde aus allen Richtungen. Doch hätte keiner von uns alles richtig machen können. Dessen war ich mir in jeder Phase sehr bewußt. Das befreit uns aber nicht von einer ehrlichen, unvermeidlicherweise kritischen Rückschau auf die Weichenstellungen, mit deren Folgen wir es bis heute zu tun haben.
    Von Beginn an war es klar, daß gewaltige Finanzmittel aus dem Westen für die Vereinigung erforderlich waren. Wie sollten sie aufgebracht werden? Drei Tage nach der Eröffnung der Mauer hatte ich, wie schon erwähnt, zum ersten Mal öffentlich von der Notwendigkeit des Teilens gesprochen. Helmut Schmidt verlangte von den Deutschen eine Anstrengung wie
jene, die Churchill in seiner »Blut-Schweiß-und-Tränenrede« vor Augen gehabt hatte. In mehreren Anläufen bis hin zu meiner Berliner Ansprache vor dem Bundestag und Bundesrat am 3. Oktober 1990 appellierte ich an die Verantwortlichen: »Oft hört man heute, niemandem solle etwas genommen werden, es komme nur auf die Verteilung der Zuwächse an. Das ist schön gesagt in der Marketing-Sprache zeitgemäßer politischer Kommunikation. Bei nüchterner Betrachtung würde jedoch auch dies nichts anderes bedeuten als die Vertagung des Teilens auf die Zukunft. Das kann dann für viele menschliche Schicksale zu spät sein. Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei: sich zu vereinen heißt teilen lernen. Mit hochrentierlichen Anleihen allein wird sich die deutsche Einheit nicht finanzieren lassen.« Das anschließende Gemurmel im Saal kam just aus der Richtung, an die ich gedacht hatte.
    In der Frühphase des Aufbruchs der Vereinigung war die große Mehrheit der Deutschen im Westen zu wirklichen Opfern bereit. Aus allen Richtungen gab es Aufrufe dafür, von starker Resonanz begleitet. Ein rechtzeitiges klares Signal der politischen Führung, daß das historische Ereignis der Vereinigung durch einen Beitrag des Westens in vergleichbar historischer Größenordnung zu begleiten sei und daß dies eben nicht aus Wachstumsgewinnen oder einem gigantischen Haushaltsdefizit finanziert werden könne und dürfe, blieb aus. Die Gründe dafür lagen leider auf der Hand. Die westdeutsche Bevölkerung sollte im Wahljahr 1990 nicht belastet werden. Der Gemeinsinn war ja da, aber er wurde nicht abgerufen. Es war ein schweres materielles und menschliches Versäumnis. Wir alle kennen und spüren die Folgen bis heute.
    Später, ohne Zweifel zu spät, ergriff ich noch einmal eine Initiative in der Öffentlichkeit. Ich verschreckte mehr als einen konsequenten Marktökonomen und Machtpolitiker mit der Anregung eines zweiten Lastenausgleichs. Gewiß gab es Gegengründe wegen möglicher Auswirkungen auf die Konjunktur und
eines langwierigen administrativen Aufwandes, wegen der inzwischen wieder verschärften Verteilungskämpfe und der allgemeinen Stimmung im Westen. Es folgte eine heftige öffentliche Auseinandersetzung. Kohl erklärte, er wolle keine Abgaben einführen. Es gehe ihm um ein stabiles Klima der Investitionen bei uns. Inzwischen wissen wir, was aus dieser Stabilität von Investitionen geworden ist. Sie sind zu Hause überwiegend in die

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