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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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anderwärts nicht immer ganz unbekannte Maxime. Beim Zustandekommen der deutsch-tschechischen Erklärung über die Vergangenheit ging es freilich umgekehrt. Aus Sorge vor einer Stagnation in der Entwicklung eines Klimas der guten Nachbarschaft hatte Havel am Anfang des Jahres 1995 noch einmal einen großen Anlauf genommen. Er eröffnete eine Vorlesungsreihe an der Prager Universität mit seinem dringenden Appell, die Zukunft nicht länger von einer kontroversen Vergangenheit verbauen zu lassen, und regte den Entwurf jener Erklärung an. In Übereinstimmung und Verabredung mit ihm schloß ich die Vorlesungsreihe gegen Ende desselben Jahres am selben Ort ab. Bei uns hatte der Bundeskanzler noch im Jahr 1995 die Erklärung zur »Chefsache« machen lassen, was immer dieser neudemokratische Begriff heißen mag. Und doch dauerte es noch vierzehn Monate, bis sich Klaus und Kohl im Januar 1997 endlich zur Unterzeichnung in Prag trafen.
    Nachdem die Zwei-plus-Vier-Konferenz ihre Aufgaben gelöst hatte und die Ergebnisse unterschrieben waren, verschob sich das internationale Interesse sehr rasch. Zwar trafen sich die Teilnehmerstaaten der KSZE im November 1990 und verabschiedeten die bedeutsame Charta von Paris für ein neues Europa. Am Ende des Kalten Krieges hatten sie Freiheit, Menschenrechte, Selbstbestimmung und eine gemeinsame Sicherheit im Auge. Es war ein historischer Augenblick voller Chancen. Aber die empfindlichen Punkte internationaler Spannungen schienen
gelöst und der Kalte Krieg beendet zu sein. Jeder begann, sich auf seine eigenen Angelegenheiten zu konzentrieren. Kein einziger der versammelten Staats- und Regierungschefs verlangte damals eine Erweiterung der Nato bis an die Westgrenze der alten Sowjetunion. Auch warf niemand einen Blick auf die beginnenden Aggressionen und Grausamkeiten im alten Jugoslawien. Die Amerikaner waren fast vollständig damit beschäftigt, ein Mandat der Vereinten Nationen zu der von ihnen geplanten und zu führenden Bekämpfung des irakischen Diktators Saddam Hussein nach seinem Überfall auf Kuwait zu erhalten. Deutschland stand zwar inmitten neuer internationaler Anforderungen, hatte aber mit seiner Vereinigung genug zu tun.
    Von alledem bekam ich einen massiven Eindruck, als ich die meisten Staatsoberhäupter im Herbst 1990 auf dem sogenannten Weltkindergipfel der Unicef in New York traf. Das Thema der großangelegten Veranstaltung bei den Vereinten Nationen sollte uns auf die stärkste Verpflichtung konzentrieren, die wir auf Erden haben, nämlich auf unsere Sorge für die uns nachfolgenden Generationen. Um Kinder- und Müttersterblichkeit, um die hohen Geburtenraten, die oft nicht nur eine Ursache für Armut sind, sondern gleichzeitig eine ihrer Folgen, um ethische und religiöse Instanzen, die zur besseren Familienplanung aufrufen und beitragen müssen, sollte es gehen. Meine Frau als sehr aktive Schirmherrin des deutschen Komitees für Unicef unterstützte zu Hause die hervorragende langjährige Unicef-Arbeit meiner alten Bundestagskollegin Marie-Elisabeth Klee.
    Aber die Staatsmänner und -frauen diskutierten fast nur über den Golfkrieg, der nun kommen sollte, dagegen kaum über Hunger und Entwicklungspolitik, Demographie und Kinder. Während des Treffens lud ich den Präsidenten Jugoslawiens zu einem Gespräch ein, um ihm die schwere Sorge über die ständig wachsende Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch die Serben vorzuhalten. An der Begegnung nahm der jugoslawische Außenminister Lonçar teil, ein Kroate, den ich aus seiner Zeit als
Botschafter Belgrads in Bonn gut kannte. Nachdem sein Präsident gegangen war, dankte er mir für die Kosovo-Intervention. Sie blieb aber isoliert. Hätte der Westen damals, im Herbst 1990, massiv bei Milošewić interveniert, so wäre vielleicht einiges von dem folgenden Unheil vermeidbar gewesen. Ich hatte den Eindruck, daß der serbische Diktator die Reaktion der Welt auf seine Unterdrückungsmaßnahmen im Kosovo testen wollte und dann, als sich wenig rührte, seine Gewaltpläne eskalieren ließ.

    Mit Boris Jelzin und George Bush 1992 in München bei dem sogenannten G7, dem Gipfeltreffen der führenden Industrienationen.

Die inneren Aufgaben der Vereinigung
    Angefüllt bis zum Rand mit Arbeit und mit gewaltigen Herausforderungen war die Außenpolitik des Jahres 1990. Europa ging einer neuen Phase seiner Geschichte entgegen. Die Nationalstaaten waren nicht überlebt. Aber das Zeitalter der Balance of power zwischen voll souveränen

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