Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
Vom Netzwerk:
29. Juni 1990 war die Feier in der Nikolaikirche in Berlin-Mitte. Die Entscheidung über die künftige Hauptstadt stand noch nicht auf der Tagesordnung des Bundestages. Ich versicherte, selbstverständlich mit allen Kräften an der Realisierung des Parlamentsbeschlusses zugunsten von Berlin oder von Bonn mitzuwirken, wie auch immer er ausfallen werde. Dann aber legte ich ein unzweideutiges Bekenntnis für Berlin als Hauptstadt ab. So hatten wir es in der alten Bundesrepublik seit Inkrafttreten unseres Grundgesetzes zugesagt, und so erforderte es nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe der Vereinigung
erst recht. »Nur in Berlin kommen wir wirklich aus beiden Teilen und sind doch eins. Die Politik muß es täglich unmittelbar miterleben, denn sie trägt die Verantwortung dafür, daß unsere Vereinigung dauerhaft gelingt... In Berlin haben wir, wie nirgends sonst, erfahren, was die Teilung bedeutet. In Berlin erkennen wir, wie nirgends sonst, was die Vereinigung von uns erfordert. Hier ist der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands.«
    Es gab Zustimmung und Kritik zuhauf. Manche westdeutschen Politiker, die sich früher oft vom Staat der alten Bundesrepublik distanziert hatten, überkam nun die Sorge vor einer Schwächung der vertraut gewordenen Bonner Welt. Die allermeisten Argumente beider Lager waren ernst zu nehmen und gingen über schlichte Lokalinteressen hinaus, auch wenn es da Ausnahmen gab. Der Gastwirt eines Lokals in Bonn-Bad Godesberg stellte ein Plakat vor seine Wirtschaft: »Hier ist Weizsäcker unerwünscht.« Freilich war ich dort bisher nie eingekehrt. Das erfolgte erst Jahre später und im guten Einvernehmen.
    Es dauerte noch ein Jahr, bis nach meiner Berliner Hauptstadtrede am 20. Juni 1991 der Bundestag nach einer leidenschaftlichen und ganztägigen Plenardebatte mit knapper Mehrheit den Beschluß zugunsten von Berlin als Hauptstadt faßte.
    Für die rasche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion war nicht zuletzt die Sorge maßgeblich, daß der Strom der Übersiedler von Ost nach West schwer lösbare Probleme aufwarf. Die Schlachten um den guten Sinn der getroffenen Maßnahmen sind geschlagen. Unter ihren Folgen ergab sich bald eine, für die nicht die Politik die Hauptverantwortung trug, sondern die Tarifvertragsparteien. Nach der wahrlich nicht unproblematischen, aber politisch unumgänglichen Währungsumstellung kamen die Verhandlungen über die Anpassung der Löhne des Osten an den Westen in Gang. Es war menschlich nur allzu verständlich, aber ökonomisch verheerend, daß diese Löhne weit rascher angehoben
wurden, als Markt- und Wettbewerbsverhältnisse es vernünftigerweise empfehlenswert gemacht hätten. Es waren nicht allein und nicht einmal primär die maroden Produktionsstätten der DDR, die zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch und massiver Arbeitslosigkeit im Osten führten. Noch gab es ja Aufträge und Kunden. Aber die Arbeitgeber mußten hohe Löhne in harter Währung zahlen und daher entsprechende Preise fordern, die für die herkömmlichen Kunden unbezahlbar waren. Die Wettbewerbsfähigkeit litt massiv unter den für den Ostmarkt zu hohen Löhnen.
    Hinzu kam eine fatale Nebenwirkung. Unabhängige ostdeutsche Tarifpartner gab es nicht. Es waren vorzugsweise westdeutsche Gewerkschaften und Arbeitgeber, die über ostdeutsche Löhne verhandelten. Und da kam nicht ganz selten der Hintergedanke zum Vorschein, etwas für den Schutz der westdeutschen Standorte zu gewinnen. Es geschah nach der Devise: Auf unseren Märkten kann am Wettbewerb teilnehmen, wer sich an unseren Bedingungen orientiert, und das heißt, auch an unserem Lohnniveau. Dies hatte einen wesentlichen Anteil an der fatalen Entwicklung auf dem östlichen Arbeitsmarkt.
    Andere ehemalige Ostblockgesellschaften erhielten keinen warmen Transferregen aus dem Westen. Sie blieben daher zwangsweise auf weit niedrigeren Lohn- und Sozialstandards, aber, wie man sieht, eher zu ihrem ökonomischen Vorteil. Lebhaft erinnere ich mich einer Veranstaltung in Dresden am Anfang der neunziger Jahre. Ministerpräsident Biedenkopf hielt in der Semperoper eine seiner packenden Ansprachen, die ihn als den scharfsinnigen Analytiker ausweisen, der einige Spatenstiche tiefer zu graben weiß, um die Ursachen unserer Lage zu verstehen und die langfristig notwendigen Folgerungen zu ziehen. Diesmal war sein Thema der wechselseitig befruchtende Zusammenhang von lebendiger Kultur und wirtschaftlicher Leistung beim Volksstamm

Weitere Kostenlose Bücher