Vier Zeiten - Erinnerungen
der Sachsen. Es war eine erleuchtende Stunde. Ganz nebenbei bemerkte Biedenkopf, daß zur Zeit noch immer
ein hoher Prozentsatz des sächsischen Haushaltes aus Fördermitteln des Bundes stamme. Auf diesen Satz sprach mich anschließend der als Gast anwesende tschechische Ministerpräsident Václav Klaus an, ein rigoroser Marktökonom von hohen Graden, dessen Vorbild Margaret Thatcher war. Er sagte mir, die Anmerkung von Biedenkopf habe ihn erheitert. Die tschechische Republik erhalte keinerlei Transferleistungen von außen. Das habe den entscheidenden Vorteil, daß er die Währungsanpassung und die Höhe der Löhne und Sozialleistungen wie überhaupt die allgemeinen Anforderungen strikt im Rahmen der Möglichkeiten seines Marktes und seiner Exportkunden halten und zu diesen günstigen Kostenbedingungen investierende Westfirmen in Scharen anziehen könne. Man werde ja sehen: Im Jahre 2000 werde die tschechische Wirtschaft besser dastehen als die sächsische. Das war Václav Klaus, wie er leibt und lebt. An Selbstbewußtsein hat es ihm nie gefehlt. Aber daß seine Prognose im Hinblick auf die Segnungen seiner Wirtschaftspolitik zutreffen werde, ist schon heute mehr als zweifelhaft.
Unrecht, Gerechtigkeit, Versöhnung
Die Angleichung der Lebensbedingungen stand im Vordergrund. Aber sie allein bringt die Einheit nicht zustande. Um die Gegenwart zu bewältigen, meldete sich alsbald ein anderes Thema: Wie kommen wir mit der Vergangenheit ins reine? Trennt oder vereint uns diese Last? Es ist eine der Aufgaben, die schwer zu erfüllen sind.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Teilung entstanden war, ging es in beiden deutschen Staaten um eine Antwort auf Ungeist und Unrecht des Nationalsozialismus. Sie wurde jedoch mit völlig verschiedenen Zielen gesucht. Daraus waren in den vergangenen Jahrzehnten zwei getrennte Geschichtskapitel entstanden.
Im Zeichen der Vereinigung will die stark gewordene alte Bundesrepublik ihre bewährte Geschichte schützen und fortführen. Das soll durch die Geschichte der DDR möglichst nicht gestört werden. Doch diese stellt nun brennende Fragen. Nur an den östlichen Teil? Bleibt es bei einer halbierten Geschichte? Kann so die Vereinigung gelingen? Das ist nicht zu erwarten. Gewiß war der Westen nur höchst mittelbar an der Entwicklung im Osten beteiligt. Aber die Wirklichkeit erlaubt es ihm nicht, sich schlechthin vom Erbe der DDR freizuzeichnen, sich quasi vom Schicksal des anderen als »nicht betroffen« zu erklären. Beide Erbteile gehören zum Ganzen. Nur dann können wir eins werden, wenn wir uns auch im Verständnis der Vergangenheit vereinigen.
Die wichtigste Antwort der alten Bundesrepublik auf die Vergangenheit war die kodifizierte und praktizierte Verfassung des freien, sozialen und demokratischen Rechtsstaates. Sie hat sich bewährt. Es gab freilich auch einen Heilschlaf und einen Berg von Schweigen, von Verzögerung und Verdrängung im Blick auf das Gewesene. Das alles kam noch einmal im Generationskonflikt gegen Ende der sechziger Jahre vehement zum Ausbruch -recht und schlecht in den Ergebnissen.
In der DDR lautete die schlichte Antwort auf die Vergangenheit: Antifaschismus. Er wurde ideologisch begründet und staatlich installiert. Die von der östlichen Siegermacht eingesetzte deutsche kommunistische Führung war dafür zum erheblichen Teil durch ihr eigenes Schicksal als Verfolgte während der Nazizeit legitimiert. Für die Allgemeinheit galt schon ein bloßes Lippenbekenntnis zum Antifaschismus als eine ausreichende Entschuldung gegenüber früheren Zeiten. Dann vergingen die Jahre im Zeichen des sich ausbreitenden Totalitarismus.
Der SED-Staat hatte keinen Angriffskrieg und keinen Holocaust zu verantworten. Seine Führung war von außen eingesetzt und kontrolliert. Um die eigene Bevölkerung zu disziplinieren, schuf sich die Führung das Instrument der Staatssicherheit und
entwickelte es zu einem Beherrschungssystem ohnegleichen. Zu seinen Mitteln gehörte es, zu indoktrinieren und zu kontrollieren, Angst zu verbreiten, Bürger zu nötigen und zur Mittäterschaft zu erpressen, wenn sie nicht Opfer werden wollten. Das Rückgrat der Menschen sollte auf subtile Weise gebogen oder gebrochen werden. So bildete sich ein Knäuel von versuchtem Widerstand oder Selbstschutz, von Zivilcourage oder Schuld.
Anders als am Ende der Nazizeit, als die meisten Opfer nicht mehr am Leben und fremde Mächte im Land waren, sind jetzt die Deutschen mit der Last der DDR-Vergangenheit
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