Vier Zeiten - Erinnerungen
historisch-menschlichen Gegebenheiten wird die Aufgabe der Rechtsprechung noch schwerer, als sie es ohnehin schon ist.
Daß aber vor allem auch jenseits des Strafrechts eine leidenschaftliche Auseinandersetzung über Gut und Böse in der Vergangenheit aufbrach, war notwendig. Sie bleibt von zentraler Bedeutung für die einzelnen Menschen ebenso wie für die Erkenntnis, wie das System arbeitete und welche Zwangsmittel es einsetzte. Welche Freiheiten ließ es? Wieweit war die Bereitschaft zur Anpassung unausweichlich, wieweit entschuldbar? Welcher Spielraum blieb, sich zu versagen oder zu widerstehen? Welche moralische Schuld ist den Menschen zurechenbar? Wie läßt sie sich erkennen, beschreiben, eingestehen, überwinden?
Und wer kann dort, wo tiefer innerer Zwiespalt vorlag, wo Zweideutigkeit unvermeidlich schien, nachträglich Eindeutigkeit herstellen? Zumal dann, wenn er aus dem Westen kommt und sich der Einsicht nicht versperren kann, daß er sich unter den Bedingungen eines SED-Staates nicht anders verhalten hätte?
In solchen moralischen und seelischen Fragen kann kein Gedanke an einen Schlußstrich weiterhelfen. Wer damals als Opfer oder Täter oder auch nur als Zeitgenosse miterlebte, was geschah, will und muß den Zugang zur Einsicht in die Abläufe gewinnen. Dazu gehören auch die Akten der Staatssicherheit. Auch wenn sie gewiß nicht für jeden Fall eine unantastbare Autorität bieten -man lese dazu die Erfahrungen von Günter de Bruyn in seinen Erinnerungen der »Vierzig Jahre« -, so sind sie doch für die Erforschung von Tatsachen und Verhaltensweisen ganz unverzichtbar. Viele geben ein Bild menschlicher Schwächen, aber auch außerordentlicher Zivilcourage.
Der Gründlichkeit bei der Aufzeichnung aller Vorfälle durch die Staatssicherheit selbst entspricht die Art und Weise, wie wir die Akten nun aufarbeiten und auswerten. Kein anderes ehemaliges Ostblockland hat seine Gauck-Behörde wie wir, auch wenn in manchem Land darüber diskutiert wird. Das ist nun einmal so, und unsere Behörde soll und wird auch offenbleiben. Dort, wo Konsequenzen aus der Aktenlage gezogen werden, muß sich das öffentliche gegenüber dem privaten Interesse rechtfertigen lassen. Dies gilt vor allem dort, wo es um öffentliche Ämter und Dienste geht.
Im generellen Bereich menschlicher Beziehungen wollen wir das Ziel im Auge behalten, den Frieden untereinander zu finden, vereint im Verständnis der Vergangenheit. Dazu gehört die ganze Anstrengung um die schwierige Wahrheit über das, was hinter uns liegt. Sie greift tief in die persönlichen Verhältnisse ein. Ungeprüfte Harmonie vorwegzunehmen bedeutet, sie vorzutäuschen, und das schafft keinen Frieden.
Vorschnelle Nachsicht ist nur Kränkung der Ostdeutschen, sagt der theologische Kirchenjurist und sächsische Justizminister Steffen Heitmann, und er fügt hinzu: »Die Verfolgung strafrechtlicher Schuld und die Benennung moralischer Schuld dienen der Wahrheit.« Wer wollte ihm da nicht zustimmen? Im selben Zusammenhang schreibt er aber auch: »Für den gesellschaftlichen
Integrationsprozeß, den wir in Deutschland brauchen, ist der Begriff der Versöhnung nicht brauchbar.« Aus solchen Worten spürt man: es ist ein schweres Thema und wird uns noch lange begleiten.
Auch wenn wir den SED-Spitzelstaat nicht mit der Apartheidsgewalt gegen die Schwarzen in Südafrika vergleichen können - die dort ans Licht gekommenen Verbrechen sind ungeheuerlich -, so gibt es doch Parallelen. In Südafrika ist der Friedensnobelpreisträger Erzbischof Tutu der Wortführer einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ihr Geist entspricht ihrem Namen: »Wahrheits- und Versöhnungskommission«. Mandela hat siebenundzwanzig Jahre im Kerker gesessen. Seine Predigt heißt Versöhnung. Einer Journalistin antwortete Tutu auf die Frage nach einer Möglichkeit von Vergebung ganz einfach: »Sie vergeben, indem Sie vergeben.« Im selben Gespräch erwiderte der Rostocker Pfarrer Gauck darauf dem Erzbischof: »Vergeben kann ich nur dem, der weiß, was er getan hat. Der Täter muß bei seinen Taten, bei seiner Schuld ›ankommen‹.« Dazu Tutu: »Wir sind alle Sünder.« Und später: »... es sind Menschen. Sie können sich ändern. Ohne diesen Glauben an Änderung gibt es keine Hoffnung.« Nur Gott weiß, ob wir Menschen bei unserer Schuld wirklich ankommen.
Die größte Kraft bleibt es ganz gewiß, eigenes Versagen selbst zu erkennen. Sie bietet den tiefsten Ansatz für eine Chance zu neuem
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