Vier Zeiten - Erinnerungen
unter sich. Die allermeisten Opfer leben mitten unter uns. Es besteht eine tiefe menschliche Notwendigkeit, der historischen, moralischen und individuellen Gerechtigkeit so nahe wie möglich zu kommen. Genugtuung für Opfer und Einsicht bei Tätern sind vonnöten.
Der Import des freiheitlichen Rechts aus dem Westen führte zu Stoßseufzern im Osten. »Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen«, so lautete die bekanntgewordene Aussage der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Wer könnte die Gefühle nicht verstehen, die sich dahinter verbergen, den Zorn nicht nachempfinden, wenn allzu viele Taten ungesühnt bleiben, mit denen die Menschen bespitzelt, bedroht, in Ausbildung und Beruf behindert wurden?
Der Rechtsstaat allein kann dies nicht, und dennoch ist er ein unentbehrliches Gut. Das Strafrecht kann weder die Geschichte noch die Politik sühnen. Der Richter darf nur über die Frage urteilen, ob ein persönliches Verhalten nach demjenigen Recht schuldhaft ist, das zum Zeitpunkt und am Ort der Tat gültig war. Diese Selbstbindung kann moralisch auch für den Falschen von Nutzen sein. Notwendig ist sie zum Schutz nicht des Täters, sondern zu unser aller Schutz vor unseren Irrtümern als Zeitgenossen, als Zeugen oder Anwälte, mit öffentlichen Meinungen und Dokumenten. Der Rechtsstaat selbst beruht auf der Erfahrung, daß wir Menschen keinen schlechthin gültigen Zugang zu absoluter Gerechtigkeit besitzen.
Bei Todesschüssen an der Mauer und zumal im ominösen Umfeld der sogenannten Regierungskriminalität steht die Rechtsprechung vor schwierigsten Aufgaben. Sie bemüht sich um das äußerst mögliche Maß, einerseits nicht gegen das Rückwirkungsverbot zu verstoßen, das »nulla poena sine lege« - ein Problem, das schon im Nürnberger Tribunal schwer zu lösen war -, auf der anderen Seite aber unserem eindeutigen Gefühl für Gut und Böse Ausdruck zu geben. Sie tut es zunächst unter Berufung auf die berühmte Formel von Gustav Radbruch, dem Weimarer Rechtsphilosophen, der gesagt hatte: »Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit weichen muß.« Das ist ein naturrechtliches Argument insbesondere gegen die Schwächen derjenigen Straftatbestände, die zwar gesetzlich fixiert sind, die wir aber als illegitim gegenüber der Wirklichkeit empfinden. Um diesen riskanten Weg abzusichern, beruft sich die Rechtsprechung ferner darauf, daß auch unter dem DDR-Recht die Gesetze nur »in menschenrechtsfreundlicher Auslegung« angewendet werden durften. Sie tut, was sie kann.
Undenkbar ist, daß alles gelingt. Ein Beispiel sind die Prozesse gegen den DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Zu den einzelnen Richtersprüchen nehme ich nicht Stellung, nur zu dem, was vom zuständigen Staatsanwalt in Berlin zu hören war. Er ist, wie jeder Staatsanwalt, durch Gesetz verpflichtet, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, die belastenden und die entlastenden Erkenntnisse zu suchen und abzuwägen, dagegen nicht Stimmungen zu mobilisieren. In aller Öffentlichkeit erklärt er aber, Rechtsanwalt Vogel sei »der größte Menschenhändler unseres Jahrhunderts«. Weiß er überhaupt noch, was er sagt? Zu den größten Menschenhändlern des vergangenen Jahrhunderts gehörten die, welche die afrikanischen Eingeborenen in ihrer Heimat anlockten oder fingen, um sie in die Leibeigenschaft und Sklaverei nach Amerika zu verkaufen. Rechtsanwalt Vogel aber
war für die westdeutschen Verantwortlichen in allen Regierungen von Erhard über Kiesinger, Brandt und Schmidt bis zu Kohl der unentbehrliche Geschäftspartner, um Menschen den Weg in die Freiheit zu öffnen. Gewiß ist es eine wichtige Frage, was die Betroffenen dafür an wen zu zahlen hatten und wohin das aus Bonn überwiesene viele Geld gelangt ist. Wir haben vom Westen her keinen Grund zur Reue über die dafür ausgegebenen Mittel. Noch in der letzten Phase bei den DDR-Urlauberflüchtlingen in den westdeutschen Botschaften war für Genscher und Schäuble und Seiters die Zusammenarbeit mit Rechtsanwalt Vogel unentbehrlich. Wenn der zur Wahrheit verpflichtete Staatsanwalt schon ganz allgemein und massiv gegen den »Menschenhandel« aus der DDR eingestellt sein sollte, was ihm natürlich freisteht und was ich falsch fände, warum spricht er dann nicht lieber gleich von einer West-Ost-Mafia des Menschenhandels? Bei einem so eklatanten Mangel an Kenntnis und Einsicht in die
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