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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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sie mit dem schönen Titel »Verschwisterung im Bruderland« in Erinnerung an die früher stets verwendete Formel der »Brüder und Schwestern« überschrieb. Gleichzeitig war unsere Bevölkerung auch zu spontaner Hilfe über die Grenzen des eigenen Landes hinaus bereit. Vor allem die Bereitschaft, notleidenden Menschen in der Sowjetunion zu helfen, war ganz außerordentlich eindrucksvoll.
    Das alles waren gute Zeichen. Bei der Mehrheit der Bevölkerung wich dennoch allmählich die Begeisterung über die wiedergewonnene Einheit einer weitaus nüchterneren Stimmung. Auf das persönliche Leben der allermeisten Menschen im Westen hatte die Vereinigung keinen erkennbaren Einfluß. Sie wollten und suchten ihn auch nicht.
    Ganz anders im Osten. Dort wurde die Vereinigung zu einem täglichen, ganz unmittelbar erfahrbaren existentiellen Prozeß der Umstellung mit oft übermenschlichen Anforderungen. Eine Frau schrieb mir, sie seien tief dankbar für die Freiheit und hätten doch nicht gewußt, wie sehr die Veränderung an die Nerven
gehe. Sie wollten ja nichts sehnlicher, als ihr Regime loswerden. Aber damit gleich so viele Elemente des eigenen Lebens von heute auf morgen durch etwas Neues, Unbekanntes zu ersetzen, quasi einen Abschied von sich selbst zu nehmen, das übersteige das menschliche Maß. Dabei hat doch jedes Leben seinen Sinn und seine eigene Würde. Kein Lebensabschnitt ist umsonst, zumal nicht einer in der Not.
    Es herrschte Unsicherheit im Hinblick auf die Ausbildung, die »Abwicklung«, den Arbeitsplatz, das Eigentum, die Notstände in der Pflege bei Alten und bei kleinen Kindern. »Früher waren wir alle gleich, auf niedrigem Niveau, und hatten alle Arbeit«, schrieb mir ein Mecklenburger, und ein anderer erklärte: »Mit unseren Seelen sind wir noch nicht bei Euch angekommen.« Er bei uns angekommen? Warum nicht wir bei ihm? Soll er den ganzen Weg allein gehen? Wie weit waren wir ihm denn schon entgegengegangen?
    Es konnte ja wohl nicht anders sein. Man hatte gegenseitig über die innere Lage zuwenig gewußt, zumal der Westen über den Osten. Mit dieser Unkenntnis bestimmte der Westen den Kurs. Er leistete immense Hilfe, aber er löste auch starke Irritationen aus. Ein Beispiel dafür war die Maxime »Rückgabe vor Entschädigung«. Meine Frau und ich fuhren mit unserem jüngsten Sohn Fritz nach Potsdam, um ihm dort das Haus seiner mütterlichen Vorfahren zu zeigen. Wir waren weit entfernt von irgendwelchen auf das Eigentum bezogenen Hintergedanken. Eine ältere Frau, die aus dem Fenster sah, fragte ich, ob wir einmal um das Haus gehen dürften. Sie antwortete trocken: »Das können Sie ruhig machen. Hier gibt es nichts zu holen.«
    Eine ganz andere Erfahrung machte ich mit einem jungen Mann, einem ehemaligen Feldwebel der Nationalen Volksarmee, der dank seines Charakters und seiner Tüchtigkeit seinen Weg nach 1990 im vereinten Deutschland gut und rasch genommen hatte. Einmal saß ich mit ihm im Auto in Berlin kurz vor dem Brandenburger Tor an einer roten Ampel unter dem
Straßenschild »Straße des 17. Juni«. Diese Straße führt zwar direkt bis an die alte Sektorengrenze zum Osten, verläuft aber ganz im Westteil der Stadt. Auf meine Frage nach seiner Meinung zu dem Straßennamen sagte er: »Bei einer Abstimmung würden die meisten Westberliner für Beibehaltung und die meisten Ostberliner für Veränderung sein.« Auf meine Rückfrage nach dem Grund für die Ostberliner Haltung meinte er: »Wir wollen nicht, daß Ihr Euch immer mit unseren Heldentaten brüstet. Und es würde Euch auch ganz guttun, wenigstens einmal zu spüren, was es bedeutet, wenn man immerzu seine Straßennamen ändern muß, weil die andere Seite es verlangt.«
    Solche Begebenheiten in der ehemals geteilten Stadt sind nicht ungewöhnlich, aber lehrreich und heilsam. Es geht ja nicht darum, den eigenen Standpunkt preiszugeben. Aber man muß sich mit ihm immer wieder den Erfahrungen der anderen Seite aussetzen, möglichst oft, möglichst täglich. Dies gehört zu den unersetzbaren und zentralen Aufgaben von Berlin.
    Dies war einer der Gründe, die mich veranlaßten, in der Hauptstadtfrage vorzupreschen und bis an die Grenze der Kompetenz meines Amtes zu gehen. Mir war die hohe Auszeichnung zuteil geworden, zunächst in Bonn und dann als erster im vereinigten Berlin die Ehrenbürgerwürde zu erhalten. Beide Male hatte ich mich mit Überzeugung zu dem guten Kapitel deutscher Geschichte bekannt, das für immer den Namen Bonn trägt. Am

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