Vier Zeiten - Erinnerungen
andere. Das traf die Sache. Der aufrechte und mutige Berliner Bischof Forck scheute sich nie, den Gedanken des jungen Karl Marx in dessen Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zu zitieren, den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. In diesem Sinne stellte Forck dem real existierenden Sozialismus das humanistische Anliegen schroff entgegen.
Ohne jeden Zweifel gab es in dieser großen Organisation Kirche starke und schwache Menschen und auch kirchenleitende Personen, die in den unumgänglichen regionalen und zentralen Staatskontakten höchst unterschiedlich waren in Klugheit und Mut. Auch kennen wir erschütternde Beispiele von Kirchenleuten, die sich selbst für Bespitzelungsaufgaben zur Verfügung stellten. Menschen sind, wie sie sind.
Aufs Ganze gesehen aber haben die Kirchen ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Staat gewahrt. Sie wurden nicht nur nicht zu seinem Instrument, sondern auch nicht zu seinem Stabilisierungshelfer. Je länger es dauerte, desto zutreffender wurde das Gegenteil. Sie bekannten sich zur Freiheit des Gewissens. Unter großen Konflikten setzten sie sich für die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein. Ihre Parole waren die »Schwerter zu Pflugscharen«. Ihre Fürsprache galt der Freizügigkeit der Menschen. Sie waren Anlaufstelle und berufene Vertreter, das schreckliche Grenzregime der SED anzuprangern. Immer von neuem suchten sie dazu auch bei uns im Westen Rat und Hilfe und Zusammenarbeit, um den Menschenrechten des Korbes 3 der Schlußakte von Helsinki Schritt für Schritt Geltung zu verschaffen.
Zu ihnen gehörte auch der Kirchenjurist Manfred Stolpe. Die für die Kirchenleitung unausweichlichen zentralen Kontakte mit
den Gremien der SED und des Staates unter Einschluß der Staatssicherheit gehörten zu den ihm von seiner eigenen Kirche zugewiesenen Aufgaben. Es war eines der schwersten und empfindlichsten Mandate der Kirchen. Stolpe hatte es unter seiner Verantwortung zu tragen und nahm es nach seiner Einschätzung wahr. Daß er sich heute gefallen lassen soll, von Westberliner Politikern als ein Mann beschimpft zu werden, der »in Diensten der Staatssicherheit« gestanden habe, ist ein Unrecht. Stolpe war nicht im Dienste der Stasi tätig, sondern im Dienste der Kirche. Der standfeste sächsische Bischof Johannes Hempel und viele andere haben es ebenso eindeutig bezeugt, wie es der zwischenkirchlichen Erfahrung von Ost und West entsprach.
Die Kirchen in der DDR waren nicht die Widerstandsorganisation gegen den Staat. Aber sie waren es, die den Oppositionellen und Bürgerrechtlern Dach und Schutz boten, ohne nach deren Glaubens- und Kirchenbindung zu fragen. Die Kirchen waren die einzigen, die den nötigen öffentlichen Raum hatten, und sie setzten ihn dafür voll ein, obwohl dies manchen Pfarrern die Aufgabe, ihre Gemeinden zusammenzuhalten, oft erschwerte.
Vor dem November 1989 gingen aus dem schützenden Kirchenraum Schritt für Schritt die offenen Demonstrationen für die Freiheit hervor. Dann übernahmen Kirchenvertreter die Führung an den runden Tischen, an denen die Weichen für die Wende gestellt wurden.
Aufs Ganze gesehen haben die SED und Mielkes Staatssicherheit ihren intensiven Kampf um Überwachung und Unterwanderung, um Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Kirchen verloren.
Parteistrategien bei der Vereinigung
Demokratie und Marktwirtschaft beruhen auf der Freiheit. In der offenen Gesellschaft herrscht der Wettbewerb politischer, materieller und geistiger Angebote mit ihren Preisen. Sie befähigen uns, auszuwählen, dazuzulernen, Konflikte auszutragen und gewaltfrei zu lösen. Es sind kluge, rationale - und vergleichsweise kühle Erfindungen. Um große Gefühle, die laut Ranke unser Zusammenleben in erster Linie bestimmen, geht es ihnen nicht. Das Herz erwärmen sie spärlich.
Zuerst herrschte helle Freude über den Fall der Mauer. Dann prägten Demokratie und Marktwirtschaft den Weg der Vereinigung. Zusammen mit dem großen Erfolg der auswärtigen Politik und mit der bewundernswert hilfreichen Arbeit vieler Institutionen und Menschen aus dem Westen für die inneren Aufgaben kam nun auch die Stunde westlicher Macht - der Macht des Marktes, der Preise, der Politik, der Parteien. Geschäfte wurden vor die Haustüren gebracht, Supermärkte schossen aus dem Boden, Super-Illus boten ihre zur Verführung
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