Vier Zeiten - Erinnerungen
bestimmten Neuigkeiten und Bilder. Vor allem aber durchlebte die DDR auf dem Wege zu ihrer Ehemaligkeit während des Jahres 1990 vier Wahlfeldzüge.
Ihr Ausgang war nicht so überraschend, wie manche meinten. Es war verständlich, daß viele im Osten anders wählten als ihre Großeltern zu Weimars Zeiten. Sie wandten sich den Parteien und Personen zu, die ihnen jetzt am meisten Hilfe und Erfolg versprachen und die dank ihres Sitzes an den Schalthebeln der Bundesmacht am einflußreichsten erschienen. Die Bonner Regierung hatte die Vorteile auf ihrer Seite gegenüber der Bonner Opposition, zumal diese mit ihren durchaus nicht immer unberechtigten Warnungen den Eindruck erweckte, als müßte und könnte noch einmal über alles neu nachgedacht werden, über Richtung und Tempo, vielleicht gar über das Ziel der ganzen Entwicklung.
Klare demokratische Ergebnisse kamen zustande. Das war in sich hilfreich. Sie beruhten aber auch auf einer Wahlkampfinvasion nach der Tonart des Westens und erzeugten damit tiefgehende Nachwirkungen. Noch Jahre später waren sie zu spüren. Ein Beispiel bietet Konrad Weiss, unerschrockener Bürgerrechtler, unerbittlicher Ankläger der Stasivergangenheit, Kritiker der Blockflöten, Visionär der Freiheit im vereinigten Deutschland. Er beklagte die ungenutzten Chancen seiner Landsleute, ihr bequemes Beharren und verlorene Hoffnungen. Den Aufbruch der DDR-Bevölkerung in die Demokratie ohne eine charismatische Führung hatte er als ein revolutionäres Wunder erlebt. Doch nun auf einmal sollte alles so sein wie im Westen. Er empfand dies als eine »Stunde der Machtbesessenen«. »Die westdeutschen Parteien brachen über das Land herein und begruben alles unter sich, was sich eben geregt hatte.« Der »Raubzug der Parteistrategen«, so Konrad Weiss, mag machtpolitisch »ein genialer Streich gewesen sein; auf die Moral in Deutschland aber wirkte er verheerend«.
Das sind scharfe Worte. Ob man sie teilen will oder nicht - die Strategie der Wahlbewerber war jedenfalls charakteristisch für unser westliches Parteienwesen. Mehrfach hatte ich mich schon vor der Wende zu dieser Thematik öffentlich geäußert. Nun kamen die Erfahrungen im Zuge der Vereinigung hinzu. Sie veranlaßten mich zu einer gründlicheren Stellungnahme in der Gestalt eines Gesprächsbuches, das viel Staub aufgewirbelt hat.
Parteienkritik hat schon eine lange Tradition. In ihren Motiven und ihrer Wirkung kann sie durchaus zwiespältig sein. Besonders populär waren politische Parteien so gut wie nie. In der Weimarer Republik war Parteienschelte darüber hinaus häufig der simple Ausdruck einer generell antidemokratischen Haltung.
Daran blieb die Erinnerung nach dem Zweiten Weltkrieg wach. Nun aber war die Lage anders. In der alten Bundesrepublik,
die lange unter der Oberaufsicht der Alliierten blieb, war die Bevölkerung mit der Staatsform der repräsentativen Demokratie durchaus einverstanden. Die pluralistische Parteienstruktur verankerte sich unter allgemeiner Zustimmung rasch und erfolgreich.
Dennoch setzte nach mehreren ernüchternden Erfahrungen von neuem eine Diskussion über die Schwächen des Parteienwesens ein. Mancher fühlte sich an die alte Aussage von Max Weber erinnert, wonach der Horizont der Parteien auf Beute ausgerichtet sei. Die stärkste Resonanz und Kontroverse erzielte in den sechziger Jahren Karl Jaspers mit seiner Schrift: »Wohin treibt die Bundesrepublik?«. Er warnte vor einem Weg »von der Demokratie zur Parteienoligarchie«. Zugespitzt sagte er: »Der Staat, das sind die Parteien.« Im klaren Gegensatz zur Haltung von Carl Schmitt, der generell gegen die parlamentarische Parteiendemokratie Front gemacht hatte, sah Jaspers seine Aufgabe darin, Demokratie und Freiheit mit Hilfe seiner Kritik voranzutreiben. Er sprach sich gegen einen autoritären und für einen sittlichen Staat aus.
Ohne Zweifel ist es den Parteien gelungen, ihre Macht in unserem Verfassungsgefüge weit über das hinaus zu vergrößern, was sich das Grundgesetz unter ihnen vorzustellen vermochte. Noch in der Weimarer Verfassung waren sie überhaupt nur negativ erwähnt worden, daß nämlich Beamte Diener der Gesamtheit seien, dagegen nicht einer Partei. Bei uns heißt es heute: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.« Das ist ein geradezu umwerfend klassisches Beispiel für ein konstitutionelles Understatement. Erst das Bundesverfassungsgericht begann allmählich damit, die Parteien so ernst zu
Weitere Kostenlose Bücher