Vier Zeiten - Erinnerungen
und dabei die Schlußfolgerung gezogen, Kohl und ich seien im Vergleich zu anderen »eines der effektivsten Doppel der letzten Jahre an der Spitze eines europäischen Staates« gewesen. Mir steht kein Urteil zu, ob es so war; jedenfalls sollte es so sein.
Entwicklungspolitik in der südlichen Hemisphäre
Während meiner ganzen Amtszeit konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die atlantischen und europäischen Fragen, auf die Ost- und Deutschlandpolitik. Dabei war es sehr notwendig, die Aufgaben der entwicklungspolitischen Hilfe und Zusammenarbeit nicht Schaden nehmen zu lassen. Heinrich Lübke hatte Entscheidendes dafür geleistet. Aber es bedurfte immer von neuem großer Anstrengungen, um der schweren Fehlschläge und hartnäckigen Vorurteile Herr zu werden, die die Nord-Süd-Politik mit sich brachte. Für meine Aufgabe genügte es bei weitem nicht, von Zeit zu Zeit im Rahmen der Welthungerhilfe oder aus anderen Anlässen im Fernsehen darüber zu sprechen. Vielmehr bedurfte ich des Augenscheins und der Lehren an Ort und Stelle, um zu Hause wirksamer zur Hilfe aufrufen zu können.
Meine erste Reise führte mich 1985 in die Sahel-Zone. Dort herrschte damals eine lang andauernde grausame Hungersnot. Wir flogen in einer mit Hilfsgütern beladenen Transportmaschine der Bundeswehr in den Westen des Sudan, wo nahe an der Grenze zum Tschad große Flüchtlingslager zu versorgen waren. Einerseits ging es um akute Katastrophenhilfe, um das Überleben der Menschen in der ärgsten Not zu sichern. Notwendig waren zum anderen Hilfswerke in der landwirtschaftlichen Selbsthilfe mit kleinen Brunnen, Saatgut, Lagerhäusern und Handwerk. Es reichte nicht aus, Nahrungsmittel zu bringen. Entscheidend war vielmehr, den Menschen dazu zu verhelfen, daß sie wieder in ihren Dörfern leben konnten und nicht in Lagern bleiben mußten, in denen es zwar heute etwas zu essen gibt, aber keine Perspektive für morgen.
Staatliche Hilfe allein war unzureichend. Jedermann zu Hause konnte auch mit kleinsten Summen etwas Spürbares beitragen. Da gab es gute Erfahrungen. Im Schwarzwald gelang es, eine Schulklasse zum Sammeln zu bewegen; sie brachte es fertig, in ihrem Städtchen vierhunderttausend DM für Brunnen im Niger aufzubringen.
Mit Reisen nach Bangladesch, Mali und Bolivien besuchte ich die ärmsten Länder ihrer Kontinente. In Bolivien hatte der scharfe Rückgang der Rohstoffpreise, vor allem der Zusammenbruch des Weltmarktes für Zinn schwere Krisen für die Bergbevölkerung zur Folge. Hinzu kamen die Schuldenlasten und der mühsame Kampf gegen die Kokainherstellung. Es gab dort eine wirksame Zusammenarbeit der Regierungen mit zahlreichen Hilfsprojekten der Kirchen, der politischen Stiftungen, Gewerkschaften und engagierten Privatpersonen im Zuge einer altbewährten Freundschaft zwischen Bolivien und Deutschland.
In Bangladesch, dem volkreichsten unter den ärmsten Staaten der Welt, erlebte ich die staunenswerte Tätigkeit der Andheri-Hilfe. Sie ist eine Initiative von Rosi Gollmann aus Bonn, die der Abhilfe der im Lande weitverbreiteten Augenkrankheiten dient.
Wir besuchten eine Dorfschule, in der sich ein kleines Team notdürftig eingerichtet hatte, um binnen wenigen Tage über hundert Einwohner am Star zu operieren. Seit Jahren sind Frau Gollmanns Augenärzte mit ihren Helfern am Werk und schaffen in ungezählten Fällen die segensreiche Voraussetzung für neues Leben.
Ein anderes Projekt, dem unser Besuch in Bangladesch galt, war eine Bank, die an Frauen im ländlichen Bereich kleine Kredite ohne Sicherheiten vergab. Das Schicksal von Frauen ist dort besonders hart. Sie sind ohne Land und ohne Einkommen, oft vom Mann verlassen, allein ohne Schutz mit ihren Kindern, vollständig abhängig. Mit Hilfe eines kleinen Kreditkontos können sie eine eigene Existenz aufbauen. Die Erfahrung der Bank ist erhellend: Gibt sie das Geld einem Mann, investiert er es zumeist in ein Transistorradio oder ein Motorrad. Er denkt an sich und an die Gegenwart. Eine Frau dagegen gibt das ihr geliehene Geld für die Kinder und die Unterkunft aus. Sie sorgt für die anderen und für die Zukunft. Dabei hat die Bank praktisch kaum Ausfälle bei ihren Krediten.
Wir besuchten auch einen Dorfunterricht, bei dem mit Hilfe eines Puppentheaters Unterricht in Familienplanung gegeben wurde. Die praktischen Ratschläge waren mit ethischen Antrieben begründet, welche dem Koran entnommen waren.
Die Not in den Hungerzonen und überbevölkerten
Weitere Kostenlose Bücher