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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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unseren angemessenen Teil von ihren Kräften für uns in Anspruch nehmen -nicht mehr. Wir werden die Natur nie beherrschen. Vielmehr sind wir ein Teil des lebenserhaltenden Kreislaufs. Wir werden unser Leben erhalten, wenn wir ihn nicht zerstören, sondern achten.

Kultur, Zusammenleben, Kunst
    Bei den geschilderten Aufgaben meines Amtes aus dem Bereich der Außen- und Innenpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit und der Umwelt spielte stets die Kultur eine zentrale Rolle - die Kultur im umfassenden Sinn des Begriffs. Wie wir wissen, bedeutet sie ihrem Wortstamme nach pflegen und anbauen, mit der Natur und den Mitmenschen sensibel umgehen. Kultur zielt auf Zusammenleben.
    Wer eine Zeitung aufschlägt, erhält einen anderen Eindruck. Da wird Kultur vorwiegend als schöner oder ärgerlicher Luxus behandelt, der zur Lösung der harten Tagesprobleme des Lebens wenig beiträgt, kaum Bedeutung für den Prozeß der menschlichen Integration besitzt und obendrein viel Geld kostet. In den Blättern findet sich die Kultur deshalb nicht vorn bei der sogenannten Politik, recht spärlich im Lokalteil, dafür aber kurz vor den Immobilien ziemlich weit hinten im Feuilleton, konzentriert für sich. Wer keine Zeit, Lust oder Übung hat, wird mit Kultur nicht behelligt. Dies beeinträchtigt nicht nur ihren eigenen Sinn, sondern es verengt auch das Konzept der vorderen Zeitungsteile.
    Gewiß gehören zur Kultur Werke der Kunst und Wissenschaft, die nur dem Urteil von Experten zugänglich sind. Kultur hat aber mit dem Ganzen zu tun und ist nicht nur den Eingeweihten vorbehalten. Sie zielt auf unser aller Lebensweise. Sie
hilft uns, human miteinander zu existieren - dem Volk mit seinen Nachbarn, dem einen Wettbewerber mit den anderen, dem Einheimischen mit den Fremden. Ohne Angst verschieden zu sein und daher Frieden zu halten, das kann sie uns lehren. Deshalb gehört sie auch zur politischen Orientierung.
    Glücklicherweise gibt es ein paar Ausnahmen im deutschen Blätterwald, wo im Feuilleton auch politische Fragen behandelt und kulturelle Themen nach vorn gebracht werden. Die ersten Seiten werden dadurch oft spannender und lebensnäher als mit manchen der üblichen Themen, die auf prominente vordere Plazierung abonniert sind.
    Dennoch ist die Regel nach wie vor eine andere. Es ist verräterisch genug, daß wir seit geraumer Zeit im vorderen Teil unserer Gazetten das Stichwort Kultur vorzugsweise unter einem ganz bestimmten Aspekt finden, nämlich dem Streit um die multikulturelle Gesellschaft. Dabei wird hart gefochten über Asyl, Flüchtlingshilfe, Einwanderungsquoten und eine Reform des antiquierten Staatsangehörigkeitsrechts. Er handelt vom Wettbewerb um Wohnungen und Arbeitsplätze und vom Umgang mit Fremdenfeindlichkeit.
    Das sind nicht nur vitale Konkurrenzprobleme, sondern zentrale Fragen unserer Zeit. An der Schwelle zum nächsten Jahrhundert gehört es zu den wichtigsten und schwierigsten Aufgaben unserer Kultur, nach dem Ende des Kalten Krieges bei offenen Grenzen mit den Migrationen fertig zu werden. Wie lernen wir es, uns im Zeichen des erweiterten Europas und der Globalisierung aller Verhältnisse nicht abzuschotten und doch das Gefühl der eigenen Heimat zu bewahren? Es ist eine unersetzliche Hilfe, die Bedeutung der Kultur anderer Völker zu begreifen und sie achten zu lernen. Bei allen Unterschieden der Lebensformen und Traditionen erkennen wir die Verwandtschaft der menschlichen Bedürfnisse. Indem wir den anderen verstehen lernen, begegnen wir uns selbst. Wenn die Blätter mit solchen Kulturthemen vorn »aufmachen«, verdrängen sie nicht die Politik, sondern nehmen sie in ihrer Substanz wirklich ernst.

    Während meiner zweiten Amtszeit habe ich nicht nur die Schwierigkeiten und Konfrontationen, sondern auch die gewachsene Bereitschaft der Deutschen erlebt, mit Aufgaben dieser Art besser fertig zu werden. In Ost und West besuchte ich Aussiedlergruppen, Flüchtlingswohnungen und Heime für Asylbewerber. Nach schweren Ausschreitungen gegen Fremde kamen wir in Rostock, in Solingen und Köln zusammen. Mit mehreren hunderttausend Teilnehmern marschierten wir im größten gemeinsamen Demonstrationszug der letzten zehn Jahre am 8. November 1992 von der Gethsemane-Kirche am Prenzlauer Berg bis zur Kundgebung in der Stadtmitte auf dem Berliner Lustgarten. Es ging einfach nur um den Artikel 1 unserer Verfassung, der die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen ausspricht, nicht nur des Deutschen.
    Kein anderes Land in

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