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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Europa hat seit dem Fall der Mauer und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien so viele Fremde aufgenommen wie wir. Das hat immer wieder große Probleme und auch Zusammenstöße mit sich gebracht. Zugleich aber hat es die Bereitschaft einer breiten Mehrheit offenbart, die Aufgaben nicht dem Staat allein zu überlassen, sondern als Menschen selbst wachsam zu sein und aktiv zum Schutz von Nachbarn, Arbeitskollegen und Schulkameraden beizutragen. Die Lichterketten in zahlreichen Städten während des Winters 1992/93 waren nur eines der Zeichen für die Mitverantwortung und Hilfsbereitschaft von Bürgern.
    Um gutes Zusammenleben und Entspannung unter den Menschen mit Hilfe der Kultur zu fördern, bedarf es neben ihrer Aufgeschlossenheit und Zivilcourage aber auch der Einsicht, daß Kultur ein wichtiger Haushaltstitel ist. Bei meiner Abschiedsrede vom Amt am 1. Juli 1994 habe ich mich dazu noch einmal an die Haushälter, Finanzverantwortlichen und Regierungschefs in Bund, Ländern und Kommunen mit der Bitte gewandt, sie möchten der Stimme des Herzens und der Vernunft folgen: Wir haben ungezählte kulturelle und künstlerische Zentren
und Zellen im Lande. Sie widmen sich dem gemeinsamen Leben mit Initiativen aller Art, durch Ausbildung und Ausstellungen, auf Bühnen und Sportanlagen, in Chören und Orchestern. Zugleich sind sie zumeist auch Vorbilder in der Kosten-Nutzen-Relation. Sie benötigen weniger Mittel als fast alle anderen Haushaltstitel. Dennoch ist ihre Wirkung weitreichend und tut der ganzen Gesellschaft wohl. Es ist nicht nur schöner, sondern es spart am Ende auch Geld, Kultur zu fördern, anstatt für die Folgen von sozialem Unfrieden zahlen zu müssen.
    Begegnungen der Politik mit den Künstlern verlaufen bei uns nicht immer sehr glücklich. Kunst ist Kompromissen abgeneigt; sie sucht das Ganze und fühlt sich oft am wohlsten im Widerspruch. Wer sich aber in der Politik dem Kompromiß verschließt, beschädigt die Demokratie.
    Kunst, Wissenschaft, Geist und alles, was sich unter dem unklaren Begriff des Intellektuellen vereinigt, haben bei uns traditionellerweise eine kritische Distanz zur politischen Macht. Es herrscht eine von beiden Seiten liebevoll gepflegte Spannung, zum Schaden für beide.
    Oft kommt es zur Einmischung des Geistes in die politische Diskussion ohne die Bereitschaft, sich am Kampf um politische Macht zu beteiligen. Mancher beruft sich dabei auf die skeptischen Worte von Immanuel Kant gegen den platonischen Philosophenkönig, »weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt«. Bei uns geht es aber nur um ihre erwünschte kritische Beteiligung und ihre Zuneigung zu unserer Demokratie, nicht gleich um ihr Königtum. Wir leben zusammen in einer Zeit des Übergangs, des Wandels unseres Bewußtseins, der Suche nach Orientierung. Dazu brauchen wir sie alle, die schöpferischen Geister, die weltoffenen Bürger, die Intellektuellen. Sie sollen nicht die Probleme lösen. Sie wissen nicht besser, was man tun soll; aber es ist eine Hilfe, wenn sie wissen, was man nicht tun darf. Es sind eher Hindernisse als Hilfen, wenn linke Intellektuelle den Rechten die geistige und
moralische Satisfaktionsfähigkeit bestreiten und wenn rechte Intellektuelle schlechthin über den Moralismus und einfach über »die Intellektuellen« herziehen, womit sie die Linken meinen. Dabei hat der vielbesungene »Mainstream« weder eine konstante Fülle noch ein festes Bett. Hin und her herrscht wenig Toleranz.
    Einzelgänger führen uns weiter, auch wenn sie der vorschnellen Einordnung und dem Getöse der Formationen nicht entgehen. Es lohnt sich, um ein Beispiel zu nennen, über Beobachtungen von Botho Strauß in seinem »Anschwellenden Bocksgesang« nachzudenken, mit denen er das Liberale in unserer Gesellschaft untersucht: Der Liberale erscheine nicht mehr liberal durch sich selbst, sondern immer rücksichtsloser liberal als entschiedener Gegner des Antiliberalismus; er sei freundlich zum Fremden nicht um des Fremden willen, sondern aus Grimm gegen fremdenunfreundliche Eigene. Nicht jedem wird Strauß damit gerecht; ganz gewiß gibt es bei uns offene Freundlichkeit zum Fremden um seiner selbst willen. Dennoch sollten wir, die wir uns als liberal verstehen, uns an seinem Urteil prüfen. Wir können nur lernen.
    In manchen Ländern der Welt gehören fruchtbare Wechselwirkungen zwischen Geist und Macht zur Tradition. Ein lebendiges Beispiel begegnete mir zu Anfang meiner Amtszeit im

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