Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
Vom Netzwerk:
mexikanischen Dichter Octavio Paz, auf den ich in der Frankfurter Paulskirche die Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises hielt, den der deutsche Buchhandel ihm lange vor seinem späteren Nobelpreis verlieh. Kaum einer hat die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme Lateinamerikas tiefer durchdacht als er. Er hat mit seiner lyrischen Dichtung die Weltliteratur der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts bereichert. Aber er hat eben auch seinem ganzen Kontinent im Ringen um Identität entscheidend vorangeholfen. Er wurde zu einer prägenden Stimme und zum Gewissen der Kultur und des Freiheitskampfes in Lateinamerika. In Yucatán gründete er eine Sekundarschule
für Kinder der Campesinos. Er kämpfte im spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite und diente später seinem Land als Botschafter in Frankreich und Indien.
    Auch in anderen Ländern Südamerikas finden sich geistig führende Schriftsteller mit herausragender politischer Verantwortung, so Pablo Neruda in Chile als Mitstreiter und Freund von Allende, Ernesto Sabato als Vorsitzender der argentinischen Kommission zur Aufdeckung von Untaten der Generalsjunta in Argentinien oder Mario Vargas Llosa als Kandidat für die Präsidentschaft in Peru.
    Auch unser Nachbar Frankreich ist mit herausragenden Dichtern gesegnet, die durch Wort und Tat und Amt an der öffentlichen Verantwortung in ihrem Land teilnahmen: Paul Claudel, Jean Giraudoux, Saint-John Perse und andere.
    Bei uns sind die Ansätze bescheiden. Einmal hat sich Willy Brandt planmäßig und erfolgreich angestrengt, um Vertreter des Geisteslebens aktiv an politischen Zielen und sogar an Wahlkämpfen zu beteiligen. Doch blieb dies im parteipolitischen Umfeld eine Ausnahme.
    In Deutschland gibt es allerdings eine noch heute lebendige Institution, die ihre Existenz einer Verneigung des Staates vor dem Geist verdankt. Es ist der Orden »Pour le mérite«, der das Licht der Welt in Sanssouci erblickte, geschaffen von Friedrich dem Großen, dessen »F« den Orden noch heute ziert. Zu den ersten Ordensmitgliedern gehörten Voltaire und d’Alembert. Für sich selbst machte Friedrich noch keinen Unterschied zwischen Staat und Geist. Weder betrachtete er sich als personifizierten Staat nach dem Beispiel von Ludwig XIV., noch hatte er Grund, an seiner Zugehörigkeit zur Welt des Geistes im geringsten zu zweifeln. Es war gewissermaßen eine Verneigung von ihm vor seiner eigenen Person, in seinen internen und einsamen Auseinandersetzungen zwischen Macht und Geist, die zum Eindrucksvollsten dieses Monarchen gehören. Sie zählt um so mehr zu den kostbaren Gütern der deutschen Geschichte, als spätere
Rückfälle geistloser Macht den Staat in schweren Verruf gebracht haben.

    Der mexikanische Dichter Octavio Paz erhielt 1984 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem später der Nobelpreis der Literatur folgte. Octavio Paz ist über Mexiko hinaus ein Repräsentant der lateinamerikanischen Literatur. In der Paulskirche hielt ich die Laudatio auf ihn. Das Bild zeigt ihn zusammen mit Hans Magnus Enzensberger und mir bei einem Besuch in Mexico-City.
    Nachdem Friedrich Wilhelm III. 1810 den Orden in einer Zeit geistiger Blüte auf militärische Leistungen beschränkt hatte, gründete Friedrich Wilhelm IV. 1842 die Friedensklasse des Pour le mérite für Wissenschaft und Künste, so wie sie bis heute besteht. Der Initiator und erste Ordenskanzler war Alexander von Humboldt.
    Nachdem der Orden während der Hitler-Zeit nahezu ausgestorben
war, sorgte Theodor Heuss zu Beginn der Bundesrepublik für seine Wiederbelebung. Er schuf ein neues Verhältnis zwischen dem Staat und der »Republik des Geistes« und machte den Pour le mérite in der Zuwahl seiner Mitglieder wie auch sonst vollkommen unabhängig. Von Amts wegen wurde der Bundespräsident Protektor des Ordens.
    Auf diese Weise kam auch ich in engen alljährlichen Kontakt mit diesem illustren Kreis, zu dessen Mitgliedern unter anderem Carl J. Burckhardt und Sarvepalli Radhakrishnan, Oskar Kokoschka und Thornton Wilder, Elias Canetti und Karl Popper, Adolf Butenandt und Friedrich August von Hayek zählten. Theodor Heuss hatte die Essenz des Ordens als den »zeitgenössischen Kommentar zur Geistesgeschichte« definiert. Doch hält sich das Ordenskapitel auf unüberhörbare Weise zurück. Es nimmt keinen Anteil an den Spannungen zwischen Geist und Macht und bezieht als Gremium keinerlei Position zu Themen der Zeit, auch nicht zur

Weitere Kostenlose Bücher