Vier Zeiten - Erinnerungen
Geistesgeschichte. Mehr als einmal war in der Öffentlichkeit der dringende Wunsch nach einem »redenden Pour le mérite« zu hören. Auch ich habe wiederholt an den Orden appelliert, er möge in einer Zeit des historischen Epochenwechsels zur Suche nach Orientierung und zum Bewußtseinswandel das Seine wahrnehmbar beitragen und nicht nur froh über seine Einzigkeit still verharren. Jedes Mitglied ist auf seine Weise daran beteiligt. Gemeinsam aber wird geschwiegen. Das ist bedauerlich, wenn auch offenbar unausweichlich.
Ganz generell machte ich es mir in meinem Amte zur intensiven Aufgabe, geistig und künstlerisch hervorgetretene Persönlichkeiten zu Gesprächen einzuladen, sie in meinem kulturell verstandenen politischen Sinn der Öffentlichkeit nahezubringen und sie zu ehren. Es gehörte zu den schönsten Erfahrungen und wahren Privilegien des Amtes, daß die meisten von ihnen positiv reagierten und mitmachten.
Naturgemäß gab es ganz unterschiedliche Erlebnisse. So denke ich an eine Begegnung mit Josef Beuys. Er kam mit einer
undefinierbaren Schar von Begleitern, setzte sich mit seinem Hut auf dem Kopf in die Mitte und ließ seine Freunde allein und ziemlich wirr daherreden, wenn es um allgemeine politische Fragen ging. Sobald er aber selbst über Erziehung und Kunst sprach, beeindruckte er uns mit seinen Forderungen, wir sollten uns nicht in Künstler und Nichtkünstler aufteilen lassen. Jeder sei ein Mitgestalter von Leben und Zukunft und damit auf seine Weise künstlerisch tätig. Auch das ist ein Ausdruck der Kultur als Kernstück der Politik.
Heinrich Böll starb bald nach meinem Amtsantritt. Ich hatte diesen immer wachen, oft bitteren und zuweilen heiteren Polemiker früher durch einen gemeinsamen Freund kennen- und hochachten gelernt. Er war in der Welt der bekannteste deutsche Dichter der Nachkriegszeit. Zu Hause blieb er viel bewundert und, was er nie scheute, viel umstritten. Als ich privat im kleinen Kreis an seinem Begräbnis teilnahm, gab es aus manchen politischen Winkeln lautstarke sinnlose Kritik.
Wir feierten Wolfgang Koeppen, den Dichter und Kritiker aus der Adenauer-Zeit. Zu seinem Lobe kamen Thomas Bernhard und Hans Magnus Enzensberger, Jurek Becker und Stephan Hermlin, Ulla Hahn und Marcel Reich-Ranicki, wie auch sein Verleger Siegfried Unseld, dem Koeppen viel zu verdanken hatte. Zwei Jahre später besuchte uns die ganze »Gruppe 47«, um ihren Initiator Hans Werner Richter zu ehren. Mit ihr hatte er etwas Außerordentliches geschaffen. Sie war die früheste, die radikalste, in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten beinahe die einzige wirklich neue Idee und Institution, die an gar nichts anknüpfte, was es in Ansätzen schon während der Weimarer Republik gegeben hatte. Ihre Wirkung ging tief und blieb auch nach ihrer Selbstauflösung bestehen. Maßgeblich hat sie unter Richters Leitung zum Gewicht und Ansehen einer deutschen Nachkriegsliteratur beigetragen, nicht zuletzt durch ihre interne »Lesewerkstatt« mit ihrer spontanen und gegenseitigen substantiellen und handwerklichen Kritik. Unter unseren Gästen für
Richter waren Ilse Aichinger und Günter Grass, Walter Jens und Hans Mayer, Wolfgang Hildesheimer und Peter Härtling, Alexander Kluge und Günter Kunert.
Die früheste, die radikalste geistige Nachkriegsinitiative, eine der ganz wenigen ohne jede Anknüpfung an die Weimarer Zeit, war die »Gruppe 47«. Sie hat die Nachkriegsliteratur in Deutschland geprägt. Hans Werner Richter hat sie gegründet und zwanzig Jahre zusammengehalten. Zu seinem 80. Geburtstag kam er (in der Bildmitte) zusammen mit Günter Grass und vielen Freunden in die Villa Hammerschmidt.
Albrecht Goes, der musikalische unter unseren Poeten, kam zu einer Feier seines achtzigsten Geburtstages. Mit seinem untrüglichen Gespür wirkte er nachhaltig in Ost und West, auch wenn es sein Vorsatz war, »von großen und wichtigen Dingen nur sehr sparsam zu sprechen«. Er hat diese Dinge seinem eigenen historischen Gewissen stets mit höchst wachen Sinnen überantwortet.
Im April 1989 feierten wir den 80.Geburtstag von Golo Mann. Nachdem er in seiner bewegenden Rede fast nur über die Habsburger Monarchie gesprochen, bat ich ihn um ein gutes Wort auch über Preußen. Golo Mann bestand als Antwort darauf, unter dem Lenbachschen Porträt von Bismarck photographiert zu werden.
Um Golo Mann waren wir im April 1989 versammelt. Zunächst pries ich seine »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«, mit der er
Weitere Kostenlose Bücher