Vier Zeiten - Erinnerungen
Amtsvorgängers Karl Carstens. Bei der Tischansprache hatte ich gerade eine offenbar ahnungsvolle Bemerkung an die Adresse des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, gemacht.
Am folgenden Tag, dem 1. Juli 1994, trafen wir uns im Berliner Reichstag zur Vereidigung meines Nachfolgers. Noch einmal wurde mir das Wort erteilt. Mein erster Gedanke und meine herzlichen Wünsche galten dem neuen Bundespräsidenten Roman Herzog und seiner Frau. Daß er mit Erfahrung und Klugheit, mit nüchternem Sinn und Witz, mit Herz und Mut ans Werk gehen werde, war mir und uns allen gewiß.
Im Zusammenhang mit dem Prozeß der Vereinigung kam dann die Rede auf die deutsche Nation. Gemeinsam mit den Partnerländern sind wir auf dem Weg zum Zusammenschluß in Europa. Das ist unsere historisch überragende Aufgabe. Es gibt keine andere Ebene als die europäische, um uns in der Welt zu behaupten. Nach wie vor gibt es aber auch keine andere Ebene als die Nation, um unsere Demokratie zu garantieren.
Eine Nation ist kein abstrakter Begriff, der ein für allemal feststeht. Sie bildet sich im geistig-politischen Bewußtsein der Bevölkerung lebendig fort. Sie ist, wie Ranke anmerkt, nicht allein von rationaler Umsicht bestimmt, sondern von starken Gefühlen. Sie verknüpft sich nicht allein mit den ethnischen Wurzeln und der Geographie, mit der Sprache und Kultur, sondern mit großen Geschehnissen und Aufgaben. Nach langer Teilung ging die Freude über die Vereinigung Deutschlands tief. Zwar unterblieb ein Aufbruch mit einem konstitutionellen Akt der ganzen Bevölkerung und einer persönlich spürbaren, als gerecht empfundenen Lastenteilung. Dennoch vereinen uns die gemeinsame Geschichte und der Wille zur gemeinsamen Zukunft. Das ist für unsere Nation entscheidend.
Am Ende der Teilung geht es für uns darum, zusammen das ganze Erbe der Vergangenheit, seine guten und seine schweren Kapitel anzunehmen oder, mit den Worten des französischen Religionshistorikers Ernest Renan, seinen Ruhm und seine Reue gemeinsam verantwortlich zu tragen. Die Nation der Deutschen ist nicht erst mit Bismarck entstanden und nicht mit Hitler untergegangen. Und auch die Nachkriegszeit ist uns vereint hinterlassen.
Das andere ist unser Wille zur gemeinsamen Zukunft, unser Aufgabenpatriotismus. Wir wollen in der Freiheit bestehen, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation, vom Einheimischen zum Zuwanderer, vom Deutschen zum Nachbarn, vom Menschen zur Natur. Wenn wir Vertrauen haben - Vertrauen zu uns selbst -, dann können wir Vertrauen bilden.
Die Präsidentin des Bundestags Rita Süssmuth verabschiedet mich im Reichstag am 1. Juli 1994.
Am Schluß meiner Abschiedsrede dankte ich allen für die gemeinsame Zeit und sagte: »Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich habe meine Amtszeit beendet. Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden.«
Hier vermerkt das amtliche Protokoll: »Heiterkeit«.
In der Freiheit bestehen
Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, sagt der antike Historiker Thukydides, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. Bis in die jüngste Zeit hinein wurde Leid in der Unterdrückung ertragen, wurden Opfer gebracht und mit Mut für die Freiheit gekämpft. Heute leben wir Deutschen vereint in einer freiheitlichen Demokratie. Zumal im Lichte der Vergangenheit haben wir allen Grund, dafür dankbar zu sein.
Solange sich die unvereinbaren Systeme von West und Ost im Kalten Krieg gegenüberstanden, bezog die Freiheit ihre Glaubwürdigkeit und ihre Kraft aus dem Zwang, sich mit ihrem Gegenteil auseinanderzusetzen und die Gefahren abzuwehren. Mit ihrem Triumph über die Unfreiheit ist es aber nicht getan. Noch ist kein Jahrzehnt seit dem Ende der Diktaturen im Osten vergangen, da melden sich schon sorgenvolle Stimmen, es sei leichter, ein autoritäres Regime zu Fall zu bringen, als ein liberales System vor seiner eigenen inneren Zerrüttung zu bewahren. Es liegt an uns, die Schwächen der Freiheit zu überwinden.
Das Glück über den Fall der Mauer und die Freude über die Vereinigung wurden allseits empfunden. Einen nationalen Überschwang haben sie zum Glück nicht hervorgerufen. Aber auch von einer Welle der Inspiration ist weniger zu verspüren als von Ernüchterung.
Die Deutschen in der DDR hatten die unvergleichlich viel schwereren Kriegsfolgelasten zu tragen. Sie mußten unter einer Fremdherrschaft und mit der brutalen Kontrolle der Staatssicherheit
leben. Unter
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