Vier Zeiten - Erinnerungen
schwierigsten Bedingungen führten die allermeisten von ihnen ein Leben in Anstand. Als das System des real existierenden Sozialismus nicht zuletzt an seinen massiven wirtschaftlichen Schwächen scheiterte, hinterließ es dennoch über die Wende hinaus tiefe Spuren im Verhalten der Menschen.
Im Westen änderte sich wenig. Sein freiheitliches politisches und wirtschaftliches System hatte sich als überlegen erwiesen - nicht zuletzt auch aufgrund seiner zahlenmäßigen Überlegenheit. Mehr als drei Viertel der wahlberechtigten Bürger sind in den alten Bundesländern beheimatet.
Die Führungsschicht nahezu aller Verbände, Organisationen und Parteien ist bis heute westlich geblieben. Das Bestreben, westdeutsche Wirklichkeit und nicht zuletzt auch westdeutsche Besitzstände zu wahren, ist offenkundig.
Inzwischen haben die offenen Grenzen und die zunehmenden globalen Einflüsse die Situation nachhaltig verändert. Die dramatisch gewachsene Arbeitslosigkeit ist ihr schärfstes menschliches und materielles Signal. Anhand der wirtschaftlichen und sozialen Probleme richten sich die tieferen Fragen an die innere Kraft der Freiheit selbst. Es sind Fragen einerseits an die Strukturen unserer Freiheit und zum anderen an unser persönliches Verhalten als freie Menschen.
Unsere Strukturen sind die Demokratie und die Marktwirtschaft. Es sind freiheitliche Systeme in einer offenen Gesellschaft, die sich zum Wettbewerb bekennt. Interessen und Programme müssen sich mit Alternativen messen lassen. Auf dem Markt der Meinungen und Angebote wird über den Erfolg entschieden. Aber wodurch unterscheiden wir Menschen uns mit dieser unserer nüchternen Effizienz vom gnadenlosen Prinzip der Auslese in der Natur gemäß den Forschungen von Charles Darwin? Wie und wo zeigt unsere Freiheit ihre zivilisatorische Kraft, ihre Ethik?
Zunächst schützt sie uns vor einem verhängnisvollen Anspruch auf absolute Wahrheiten, über die wir Menschen nicht
verfügen. Die offene Gesellschaft kann gemäß Karl Popper Fehlleistungen und Irrtümer aufdecken; wir sollten statt der größten Glückseligkeit für die größte Zahl - etwas bescheidener - das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle fordern. Das ist in seinem Kern ein humanes, ethisches Postulat der Wahrhaftigkeit.
Wie so viele Männer der Politik hatte Karl Popper auch mich mit seiner Lehre von der »Offenen Gesellschaft« beeindruckt und beeinflußt, da sie eine philosophische Grundlegung für unsere Verantwortung in der Freiheit gab. Kurz vor seinem Tod besuchte ich ihn noch einmal in seinem Haus bei London.
Für unsere Marktwirtschaft hat schon ihr Stammvater Adam Smith mit Nachdruck auf die zivilisatorische Entwicklung gesetzt. Im Zusammenspiel der vielen Marktteilnehmer mit ihren privaten Interessen soll ein Optimum der Güterversorgung erreicht werden. Der frei wählende Egoismus erzielt weit größere Erfolge für alle als jede politische Planung und Beherrschung des Marktes. Funktionieren kann diese freie Wirtschaft laut Adam Smith aber nur im Rahmen eines Gemeinwesens, das
nach außen Schutz gewährt, nach innen die Rechtsordnung aufrechterhält und die Aufgaben wahrnimmt, welche die Menschen zum Leben brauchen, die aber keine materiellen Gewinne versprechen: Erziehung, Infrastruktur und nicht zuletzt soziale Gerechtigkeit - also eben das Poppersche kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle. Heute fügen wir Umweltschutz hinzu.
Kein Markt kann auf die Dauer in Freiheit ohne ein Gemeinwesen überleben, welches das Interesse des Ganzen wahrnimmt. Der wirtschaftliche Erfolg in der alten Bundesrepublik beruhte darauf, Adam Smith’ Postulat eines freien Marktes in einem Staat sozialer Gerechtigkeit ernst zu nehmen. Einsicht und Vernunft von allen Seiten sind auch in Zukunft vonnöten, ein wechselseitiges Verständnis zwischen Wirtschaft und Politik bleibt unentbehrlich. Eine Politik, die den Wettbewerb aushebeln und das Gewinnstreben auf den Märkten verdächtigen wollte, würde auf die Dauer nur die öffentliche Leistungsfähigkeit und die Versorgung für die Bürger unterminieren. Eine Wirtschaft, die um der Preise und Gewinne willen gegenüber dem sozialen Gefüge gleichgültig bliebe, würde schließlich auch den eigenen Erfolg gefährden. Der Unternehmer handelt in eigener Sache klug, wenn er sich für die Fragen des Gemeinwohls öffnet. Der ehrbare Kaufmann ist kein ethischer Sonderling, sondern einer, der seine Interessen vernünftig versteht. Unsere Zivilisation läßt
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