Vier Zeiten - Erinnerungen
übergeht oder vielleicht gar verändert, so kann sie ihren Träger doch nicht verleugnen. Selbst wenn sie es versuchen würde - dem Leser, den Baudelaire vorsorglich einen Mitheuchler nennt, würde es kaum entgehen.
Wer heute einen Kriegsteilnehmer befragt, will vor allem verstehen, wie alles so kommen konnte. War das, was wir als junge Männer taten und dachten, im Einklang mit dem, was wir wußten und beurteilen konnten? Mancher der Alten sagt, er wußte gar nicht, daß er nichts wußte, weil er nicht wußte, daß es etwas zu wissen gab. Darüber will ich nicht streiten. Die entscheidende Frage, die jeder nur sich selbst stellen kann, aber auch stellen muß, bleibt ja nicht die, was er wußte, sondern was er nach seinen konkreten Lebensbedingungen hätte wissen können und überhaupt wissen wollte. Die Schuldigen zu suchen ist eine Sache für sich. Das Recht auf ein gutes Gewissen verschafft sie keinem von uns.
Unser Regiment nahm am Krieg gegen Polen teil. Danach wurden wir an die luxemburgische Grenze verlegt. Unvergeßlich ist mir die Stimmung, mit der uns die Bevölkerung in den westlichen Eifeldörfern begegnete. Gerade hatten wir den sogenannten polnischen Korridor durchquert und damit die seit dem Versailler Vertrag beseitigte direkte Verbindung nach Ostpreußen wiederhergestellt; mit Jubel hatten uns die Ostpreußen empfangen. An der deutschen Westgrenze dagegen waren wir unwillkommen. Im vertrauten Abendgespräch sagten uns die Bauern, es sei ihnen ziemlich gleichgültig, ob sie unter deutscher, französischer oder gar europäischer Herrschaft lebten, wenn ihnen nur ein Krieg erspart bliebe.
Doch der siegreiche Frankreichfeldzug folgte auf dem Fuß und löste in der Heimat ein ungeheures Echo aus. Das Regiment war dabei und wurde bald wieder in den Osten verlegt, zunächst an die Weichsel bei Thorn, später an die polnisch-russische Grenze. Vom Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion bis zum Ende blieben wir an der Ostfront eingesetzt.
Auf Genesungsurlaub nach der ersten Verwundung im Rußlandkrieg, August 1941.
Im Sommer 1941 wurde ich zum ersten Mal verwundet, war aber nach vier Lazarettwochen wieder bei meinem Truppenteil. Im Winter 1941/42 wurde das Regiment fast ganz aufgerieben, einen Tagesmarsch von Moskau entfernt, beinahe auf Sichtweite zur Hauptstadt. Nach einer kurzen Phase der Neuaufstellung in Jütland ging es wieder an die Front, diesmal bei Leningrad und südlich des Ladogasees, später beim Rückzug über Newel, die baltischen Inseln und Litauen zuletzt wieder nach Ostpreußen, wo es im März und April 1945 für die verbliebenen Reste des
Regiments noch zu den schwersten Kämpfen des ganzen Krieges kam. Aufgrund einer weiteren Verwundung blieb mir die russische Gefangenschaft erspart. In der ersten Aprilhälfte wurde ich über Königsberg und die Ostsee nach Potsdam abtransportiert.
Was also hatten wir erlebt, die wir im Alter rund um die zwanzig Jahre am ganzen Krieg teilgenommen hatten? Eines nahen Freundes Antwort lautete nur: »Wir haben überlebt.« Der es sagte, Axel von dem Bussche, empfand dies zeitlebens als schwere Last, er, der im Jahre 1943 seine Bereitschaft bewiesen hatte, sich selbst bei einem Anschlag auf Hitler zu opfern.
Dennoch waren es für uns junge Soldaten menschlich prägende und prüfende Jahre des Lebens, auch für Axel. Voller Widersprüche waren sie, eine Mischung von Kälte und Wärme, von jugendhafter Sorglosigkeit und tödlichem Ernst, von Anstand und ethischer Ausweglosigkeit. Man lebte im eigenen Truppenteil enger zusammen als irgendwo sonst auf der Welt und machte existentielle Erfahrungen mit den anderen und mit sich selbst. Vor dem Krieg hatten wir als Rekruten auf Potsdamer Übungsmärschen oft genug Friedrich Schillers »Wohlauf Kameraden« gesungen:
»Ins Feld, in die Freiheit gezogen!
Im Felde, da ist der Mann noch was wert,
Da wird das Herz noch gewogen,
Da tritt kein anderer für ihn ein,
Auf sich selber steht er da ganz allein.
...
Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,
Der Soldat allein ist der freie Mann!«
Von einem solchen Freiheitsgefühl war allerdings bei uns keine Rede; Schiller hatte sein Lied ja auch für Wallensteins Reiter gedichtet, nicht für unsere Zeit. Aber auch in unserem Krieg wurde
das Herz noch gewogen, vor allem das Herz für andere, ob eben doch einer für den anderen eintrat oder nicht. Es konnte einer von Natur aus auf eine Art mutig sein, daß er gar nicht wußte, was Angst ist. Das machte ihn eher
Weitere Kostenlose Bücher