Vier Zeiten - Erinnerungen
Schlüsselposition des Regimentsadjutanten. Nach dem Krieg wurde er als Bundeswehrgeneral der Vater des Konzepts vom »Bürger in Uniform«.
Ende August 1939 kam es zur allgemeinen Mobilmachung. Gerade hatte ich ein knappes Jahr in Uniform hinter mir. Als einfache Soldaten konnten wir die Hintergründe der politischen Entwicklung unmittelbar vor Kriegsausbruch nicht durchschauen. Vom geheimen Protokoll zwischen Stalin und Hitler, das die entscheidende Voraussetzung für den deutschen Angriff auf Polen schuf, wußten wir nichts. Die deutschen Zeitungen waren voll von Berichten polnischer Provokationen und Übergriffe gegen die deutschen Minderheiten. Wer wußte, ob die Berichte stimmten? Geglaubt wurde das meiste.
Nachts marschierten wir aus den Kasernen zum Verladebahnhof. Einige Angehörige und Passanten standen am Straßenrand, so hörbar stumm und sorgenvoll, wie eine Menschenansammlung nur sein kann. Welch ein Kontrast zur Begeisterung, mit der die Bevölkerung ihre Truppen in den Ersten Weltkrieg begleitet hatte!
In der Garnisonkirche, dem Wahrzeichen von Potsdam, hatte Hindenburg am 21. März 1933, dem sogenannten »Tag von Potsdam«, Hitler aufs Preußentum taufen und einschwören wollen, unter den präsentierten Gewehren des Infanterieregiments 9. Wenige Jahre später folgte der deutsche Angriff auf Polen und weitere fünf Jahre später der englische Luftangriff auf Potsdam am 14. April 1945, der die Stadt des Preußenkönigs fast auslöschte. Hier die Turmruine der Garnisonkirche, deren Reste später weggesprengt wurden, im Hintergrund die wiederaufgebaute Schinkel-Stülersche Nikolaikirche.
Wir Soldaten waren damals keine besseren oder schlechteren Menschen als unsere Väter, die fünfundzwanzig Jahre zuvor in den Krieg gezogen waren, oder als unsere Nachkommen, die heute über uns urteilen. Wie die Soldaten in aller Welt waren wir unserer Heimat verbunden. Zum Gehorsam waren wir erzogen und gezwungen. Und so marschierten wir, ohne Enthusiasmus, aber im Bewußtsein, die Pflicht zu tun.
Am frühen Morgen des 1. September überschritten wir die polnische Grenze. Tags darauf kam es gegen Abend zum ersten Gefecht mit polnischen Truppen, am Bahndamm von Klonowo in der Tucheler Heide. Als erster der Offiziere des Regiments fiel Heinrich, einige hundert Meter von mir entfernt. In der Nacht wachte ich bei ihm, dem heißgeliebten Bruder, bis wir ihn morgens zusammen mit den anderen Gefallenen am Waldrand begruben. Dann mußten wir weiterziehen. Wer könnte die Empfindungen dieser Stunden beschreiben? Kaum hatte der Krieg begonnen, hatte er mein Leben schon für immer geprägt; es war nie mehr dasselbe wie zuvor.
Kriegsdienst bis zum Ende
Die Kriegszeit nahm ihren Lauf, voller Leid auf allen Seiten, unbegriffen in ihrer damaligen Gegenwart, ganz unbegreiflich im späteren Rückblick, zumal für Nachgeborene. Warum noch einmal darauf zurückschauen, mehr als ein halbes Jahrhundert danach? Was darf man davon erwarten? Zeitgeschichte steht für mich lebenslang stets im Mittelpunkt gemeinsamer Reflexionen mit Jüngeren. Aber es gibt Hemmungen, die eigenen Kriegserinnerungen mit ihnen zu teilen. Für die weltgeschichtliche Bedeutung des Krieges, die jedermann interessiert und betrifft, wirkt das Schicksal des einzelnen jungen Soldaten doch ganz unwichtig. Ihn selbst aber haben seine tiefen menschlichen Erfahrungen im Krieg für immer beeinflußt. Wie läßt sich diese Diskrepanz überwinden? Warum soll man es überhaupt versuchen? Vielleicht nur deshalb, um der Geschichte ihren abstrakten Charakter zu nehmen? Wohl kaum. Wer wollte schon seine persönlichen Erlebnisse für so exemplarisch halten?
Vier Wochen nach Kriegsausbruch. Am zweiten Kriegstag war mein Bruder Heinrich gefallen, ein paar hundert Meter von mir entfernt. Kaum hatte der Krieg begonnen, hatte er schon mein Leben für immer geprägt; es war nie mehr dasselbe wie zuvor.
Die große Geschichte kann ich natürlich nicht erzählen. Ich kann nur meine eigene kleine Erinnerung den vielen anderen hinzufügen. Das ist allenfalls ein Beitrag zur »Geschichtsschreibung von unten«. Dabei kann ich die Historiker bei ihrer gewissenhaften Arbeit kaum unterstützen. Mir geht es darum, der Erinnerung nicht auszuweichen. Sie begleitet mich ohnehin ständig mit ihren bösen und guten Erfahrungen aus einer schweren Zeit.
Ganz gewiß ist auch meine wie jede Erinnerung subjektiv. Zumeist unbewußt, trifft sie eine Auswahl. Doch auch soweit sie dabei Ereignisse
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