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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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möglich war. Als freier Mann war er nach Nürnberg gekommen, um auszusagen, was er wußte. Er arbeitete an Entwürfen für eine Verfassung im eigenen Land und für die Gestalt eines künftigen Europa. Er beschrieb die unselige Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Moral. Es drängte ihn mit Macht zur endgültigen Rückkehr nach Deutschland.
    Zunächst kehrte er nach seiner Zeugenaussage vor dem Internationalen Tribunal noch einmal nach Rom in den Vatikan zurück. Nachdem ihm, wie schon zuvor die Amerikaner, dann auch die französischen Behörden einen freien Aufenthalt in ihrer Besatzungszone zugesichert hatten, verließen die Eltern Anfang 1947 die Heilige Stadt und nahmen ebenfalls auf der Halde bei Lindau ihr bescheidenes Quartier.
    Im Juli 1947 wurde mein Vater zu erneuten Aussagen nach Nürnberg eingeladen, wozu er sich ohne Zögern bereit fand. Dort wurde er aber sofort nach seiner Ankunft verhaftet. Es folgten Verhöre, Angebote und schließlich Anklagen mit einem Prozeß, der bis 1949 dauerte. Die Freiheit wurde meinem Vater erst im folgenden Jahr wiedergegeben.
    Dieser Prozeß fand damals in Deutschland wie auch international große Aufmerksamkeit. Ich unterbrach mein Studium und zog nach Nürnberg. Obwohl ich erst Jurastudent im fünften Semester war, wurde ich von der amerikanischen Justiz formell als Assistent der Verteidigung zugelassen, in der ich nun eineinhalb Jahre mitarbeitete. Mein Vater war darüber zunächst sehr beunruhigt; denn er wollte ganz und gar nicht, daß ich ihm meine Zeit opferte und um seines Verfahrens willen meinen Weg ins Berufsleben verzögerte. Für mich aber war es wahrlich alles andere als ein Opfer. Es brachte ein unersetzliches, zentrales Kapitel meines Lebens mit sich. So schwer die Zeit, so menschlich erfüllend war sie. Im intensiven, oft täglichen Zusammensein mit dem eigenen Vater wuchs eine tiefe innere Bindung. Im übrigen erhielt ich einen zeitgeschichtlichen Unterricht von einer prägenden Eindrücklichkeit, wie sie kein abstraktes Studium je hätte bieten können.

    Im Nürnberger Gerichtssaal 1948. Als der »Spiegel« dieses Bild veröffentlichte, das meinen Vater mit mir in der Anwaltsrobe zeigt, betitelte er es nach einem damals allgemein bekannten Schlager: »Open the door, Richard!«.
    Bei den Aufgaben der Verteidigung wirkten wir in einem
Kreis von Freunden zusammen. Gemeinsam mit dem amerikanischen Anwalt Warren E. Magee leitete Hellmut Becker unser Team. Aus seiner Studienfreundschaft mit meinem Bruder Carl Friedrich waren enge menschliche Bande mit unserer ganzen Familie gewachsen. Mit seiner hohen kritischen Intelligenz und seiner nie ermüdenden Arbeitskraft steuerte er uns durch das Verfahren. Sigismund von Braun war zur Mitarbeit bereit; auch er war ein Freund der Familie und zuletzt als Diplomat an der Vatikanbotschaft tätig. In der Bundesrepublik wurde er später unser Botschafter in Paris, London und bei den Vereinten Nationen, sodann Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Aus dem Kreis der früheren Mitarbeiter meines Vaters war Albrecht von Kessel für mich zu einem nahen Freund geworden. Er half uns von außen in Nürnberg, so wie er schon zuvor meinem Vater in den schwierigsten Amtszeiten zur Seite gestanden hatte. Er gehörte zum engsten Kreis derer, die als Diplomaten am Widerstand gegen Hitler teilgenommen hatten. Sein Mut, seine Klugheit und seine Kultur machten ihn beim Wiederaufbau des diplomatischen Dienstes nach dem Krieg zu einer menschlichen und politischen Zentralfigur.
    Exemplarische Bedeutung für das Verstehen einer so unbegreiflichen Zeit erhielt durch den Prozeß gegen meinen Vater vor allem eine Frage: War es möglich, war es überhaupt denkbar, den Charakter und die Verbrechen des Regimes zu verabscheuen, ja zu bekämpfen, und ihm dennoch zur Verfügung zu stehen? Konnte dies unter bestimmten Voraussetzungen geradezu geboten sein? Oder war es schlechthin nicht zu rechtfertigen? Welchen Preis mußte einer bezahlen, der im Amt blieb, also mitwirkte, um auf die Entwicklung in seinem Sinne verändernd einzuwirken oder um wenigstens Schlimmeres zu verhüten? Was konnte es überhaupt heißen, Schlimmeres verhüten zu wollen, da doch das undenkbar Schlimmste geschah? Und so argumentierten denn die Ankläger, daß einer, der nun vorgab, das geringere Übel gesucht zu haben, in Wahrheit nur für sich selbst das geringere Übel gewollt habe.

    In einem Strafprozeß geht es um Schuld oder Unschuld eines Angeklagten, also am Ende

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