Vier Zeiten - Erinnerungen
nicht um das politische Urteil über eine Zeit, sondern um das menschliche Verhalten einer Person. Von Anfang an war ich aber in Nürnberg der Überzeugung, daß kein vernünftiges Verständnis erreichbar sein werde, wenn man versuchen würde, das eine vom anderen zu trennen. Das Gericht sollte seinerseits ein wahres Bild des Menschen gewinnen. Die Verteidigung mußte sich aber auch vorbehaltlos bei der Analyse der politischen Verhältnisse beteiligen.
Das war notwendig und zugleich ungemein schwierig. Schon die europäische und deutsche Geschichte war den drei amerikanischen Richtern reichlich unbekannt. Erst recht blieben die Lebensverhältnisse unter einer Bespitzelungsdiktatur diesen Bürgern einer stets freien Demokratie im Grunde bis zuletzt ein Buch mit beinahe sieben Siegeln.
Hinzu kamen auch bei der öffentlichen Diskussion in Europa Meinungsfronten mit einer Mischung alter und neuer Vorurteile an die Oberfläche: Luther - Bismarck - Hitler = eine konsequente Linie? Wer speziell bei den Deutschen immer schon ganz typische Gefahren vermutet hatte, den übersteigerten Nationalismus, den Militarismus, die Abneigung gegen Demokratie, wer in den zwanziger Jahren selbst bei Politikern wie Stresemann und Groener solche Neigungen entdeckt zu haben glaubte, der konnte offenbar den Nazismus nur als die schlüssige Vollendung jener tödlichen deutschen Schwächen sehen. Wer generell so dachte wie zum Beispiel der bekannte damalige Chef der britischen Diplomatie, Lord Robert Vansittart, der die Deutschen nun einmal für moralisch haltlos hielt und verkündete: »No sane man can trust Germans«, der konnte es nur als Ausrede deuten, wenn ein Deutscher, wie mein Vater, bekundete, er habe Hitler immer als etwas uns Fremdes empfunden.
Es war ja auch alles unvorstellbar grauenhaft genug, was geschehen war. Uns konnte es primär keineswegs um einen Kampf gegen solche alten antideutschen Vorurteile gehen. Auch für das
unvoreingenommene Bewußtsein war es schwer genug, irgend etwas zu begreifen. Niemand hatte damals schon die großen Geschichtswerke über Hitler von Alan Bullock und Joachim Fest in der Hand, oder Sebastian Haffners »Anmerkungen zu Hitler«, in denen dieser nicht nur die verhängnisvollen Folgen der Fehler von Versailles schilderte, sondern auch scharfsinnig den innenpolitischen Prozeß der Zersetzung bereits während der Weimarer Zeit: die »Armee von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst« des Weimarer Staates; die wenigen »Vernunftrepublikaner in der Republik ohne Republikaner«; die Hindenburg-Wahl des Jahres 1925 als Glücksfall insoweit, als sie wenigstens temporär die Rechten nötigte, die Republik mitzutragen; das praktische Ende der Weimarer Republik durch Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und die Regierung Brüning mit halbdiktatorischen Vollmachten; das Papensche »Kabinett der Barone« ohne parlamentarisches Mandat; den Weg zum faschistoiden Ständestaat, wie er Schleicher vorschwebte; die Berufung Hitlers durch Hindenburg auf Anraten Papens; den heroischen ausweglosen Widerstand der Linken, der sich für Hitler schließlich auf eine geheimpolizeiliche Aufgabe konzentrierte und in der inneren oder äußeren Emigration endete.
Waren da nicht, wie Haffner meint, Beamte, Offiziere, Konservative an wichtigen Schaltstellen des Staates ein schwierigeres Problem für Hitler, weil er mindestens zunächst auf sie angewiesen war? Machten sie, die mit ihren eigenen, herkömmlichen Vorstellungen im Amt blieben, ihm etwa mehr zu schaffen? Oder waren sie schließlich doch nur eine Hilfe für Hitler, indem sie ihm mit ihrer Erfahrung nutzten und den Anschein der Seriosität des Regimes nach innen und außen beglaubigten? Waren nicht letzten Endes auch manche Teile des Widerstandes bis hin zum 20. Juli 1944 durch romantisch-konservative Staatsideen geprägt und der Wirklichkeit zu fern?
Das war der Hintergrund der Fragen, die nun im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozeß geklärt werden sollten, in den mein
Vater mit zwanzig anderen Angeklagten einbezogen wurde. Tätigkeiten und Auffassungen dieser einundzwanzig waren freilich so verschieden, daß das Verfahren von den Medien alsbald auf den Namen Omnibus-Prozeß getauft wurde.
Eine gigantische Materialschlacht entfaltete sich. Das dokumentarische Beweismaterial umfaßte 39 000 Seiten, die englischen Verhandlungsprotokolle mit Zeugenaussagen und Plädoyers füllten 28 000 Seiten.
Der Prozeß brachte ein erschütterndes Ausmaß von Verbrechen
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