Vier Zeiten - Erinnerungen
während der nationalsozialistischen Zeit ans Licht. Fast alle überlebenden Akteure aus jener Zeit sagten als Zeugen aus. Unübersehbar groß war auch die Zahl der Äußerungen aus dem Ausland.
Die Anklage konzentrierte sich auf die Führung von Angriffskriegen und auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vor allem auf die Deportation von Juden aus dem Ausland in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Sie stützte sich dabei hauptsächlich auf die nicht kodifizierten, weithin naturrechtlichen Prinzipien des Nürnberger Hauptprozesses. In der Sache meines Vaters ging es uns aber von vornherein nicht um eine Auseinandersetzung über strafrechtliche Grundsatzfragen, also auch nicht um den zentralen Grundsatz »nulla poena sine lege«. Am verbrecherischen Charakter der Untaten, die nun ans Tageslicht kamen, gab es bei uns nicht den geringsten Zweifel, ob mit oder ohne darauf anwendbare formulierte Strafgesetze.
Was über das Schicksal der Juden in den Vernichtungslagern bekannt wurde, erschütterte die ganze Welt. Es mußte im Mittelpunkt der Nürnberger Prozesse stehen und zu Anklagen von ungeheurem Ausmaß führen. Wer hatte was geplant, ausgeführt, gewußt, geschehen lassen? Hatte niemand aufbegehrt? Wo waren die Schuldigen? Oder hatte, wie einer der Ankläger sarkastisch fragte, jeder die wenigen gerettet, dagegen keiner die vielen umgebracht?
In einem der Nürnberger Verfahren gegen Wirtschaftsführer,
die in der Nähe von Konzentrationslagern industrielle Produktionsstätten geleitet hatten, legte die Verteidigung einen großen Band von Beweisstücken unter dem Titel »Der gute Glaube des Deutschen Volkes« vor. Daß von dem millionenfachen Mord in Auschwitz und anderen Lagern nur die wenigsten Deutschen etwas Gesichertes und Konkretes wußten, ist im Kern kaum zu bezweifeln. Es fehlte ihnen nicht nur die Information, sondern es überstieg einfach ihre Vorstellungskraft, daß so Ungeheuerliches hatte geschehen können. Von dieser Unkenntnis bis zu einem »guten Glauben« über das Judenschicksal ist es aber ein weiter, ein viel zu weiter Weg. Bis auf den heutigen Tag verfolgen uns diese Fragen.
Wer in den bewegenden Tagebüchern des jüdischen Romanisten Victor Klemperer liest, der stößt auf die überzeugendsten Schilderungen von öffentlich sichtbaren Judenmißhandlungen. Klemperer beschreibt sie mit großer Selbstbeherrschung und Genauigkeit; zugleich macht er verständlich, wie sich die tödliche Erkrankung des Nazismus unter den Bedingungen eines schon von langer Hand her geschwächten Immunsystems deutschen Bürgertums entwickelt hatte. Niemand konnte doch die Brände der Synagogen oder die gelben Sterne, die die Juden nicht nur auf den Straßen, sondern selbst im privaten Umfeld tragen mußten, ahnungslos gutgläubig mitansehen. Es war ja auch nicht bei dem alten drohenden Pamphlet »Mein Kampf« des damals jungen und noch machtlosen Agitators geblieben; vielmehr hatte Hitler schon vor dem Krieg in einer Reichstagsrede dem Volk laut und öffentlich verkündet: »Wenn es dem internationalen Finanzjudentum inner- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.« Laut Protokoll war »anhaltender stürmischer Beifall« die Antwort des Hauses. Konnte denn dem angeblich so guten Glauben des deutschen
Volkes noch dramatischer und öffentlicher der Boden entzogen werden?
Als ich vierzig Jahre später einmal öffentlich sagte, es hätte denen, die ihre Ohren und Augen aufmachen wollten, nicht entgehen können, daß Deportationszüge rollten, da wurde ich von ernsten und vertrauenswürdigen Zeitgenossen gerügt: Sie hätten es nicht gewußt und auch nicht wissen können. Das muß ich ihnen glauben. Es richtete sich nach den konkreten Verhältnissen des einzelnen. Aufs Ganze gesehen aber kam nun zur Sprache, was zu allen Zeiten eine Versuchung ist: Möglichst wenig zur Kenntnis nehmen, wenn etwas geschieht oder gerüchtweise verlautet, was nicht geheuer ist; das Gewissen ablenken lassen, wegschauen, schweigen. Kaum einer von uns, die wir die damalige Zeit als Erwachsene erlebten, war davon wirklich ganz frei, auch ich nicht.
Im Prozeß gegen meinen Vater ging es um seine konkrete Position. Er hatte selbst keinen unmittelbaren Anteil an der Macht gehabt, aber er war den Machtzentren nahe gewesen. Auch wenn
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