Vier Zeiten - Erinnerungen
seine Informationen, sein Argwohn und seine Phantasie bei weitem nicht ausgereicht hatten, um sich ein wahres Bild vom Holocaust zu machen, so wußte er doch aus den Akten und durch mündliche Informationen für seine Entscheidungen mehr als genug. Er war sich vollkommen bewußt, daß er das Odium auf sich genommen hatte, im Amt eines verruchten Systems geblieben zu sein. Er selber hat die große Anzahl einzelner Menschenschicksale, bei denen er selbst in Berlin und später in Rom beschützend und lebensrettend helfen konnte und die alle öffentlich bezeugt sind, nie als eine Rechtfertigung für das Verbleiben im Amt betrachtet, genausowenig wie er umgekehrt eine Chance dafür gesehen hatte, schwerste Verbrechen vor allem gegen Juden zu verhindern, die im Prozeß zur Sprache kamen, Verbrechen, von denen er wußte oder eine Ahnung haben konnte.
Sein einziger Grund, das Amt zu übernehmen und in ihm
auszuharren, war der Versuch, in den Gang der Außenpolitik wirklich einzugreifen, um den Ausbruch und danach die Erweiterung und Verlängerung des Krieges, in allererster Linie den Angriff auf die Sowjetunion zu verhindern. Niemand hat schärfer gesehen und tiefer empfunden als er selbst, daß gescheitert war, was er sich vorgenommen hatte. Aber es zu versuchen, das hielt er für seine Pflicht, und es wurde der Inhalt seiner Tätigkeit.
Der erste Punkt der Anklage gegen ihn hatte die Führung von Angriffskriegen zum Gegenstand. Er nahm den größten Umfang des ganzen Verfahrens ein. Die Anklagevertreter behaupteten, mein Vater habe Hitlers Kriegspolitik begeistert unterstützt, ja möglich gemacht.
Diese Beschuldigung war vollkommen absurd; sie war das genaue und groteske Gegenteil der Wahrheit. Die Beweisführung war aber deshalb nicht immer leicht, weil es dazu der Zeugenaussagen der ausländischen Verhandlungspartner meines Vaters bedurfte, und diese waren für uns zum Teil unzugänglich. Die wichtigsten waren die britischen Außenpolitiker und Diplomaten, die die Anstrengungen meines Vaters vor allem zur Verhinderung eines Kriegsausbruchs in den Jahren 1938 und 1939 selbst miterlebt hatten. Jetzt aber empfahl ihnen ihr Außenministerium, zu schweigen. Die meisten hielten sich daran, zu unserem Nachteil. Eine Ausnahme machte der damalige britische Außenminister selbst, Lord Halifax. Er gab ein ehrliches und hilfreiches Zeugnis für meinen Vater ab.
In der höchst umfangreichen zeitgeschichtlichen Literatur des In- und Auslandes gibt es mittlerweile kaum noch ernstzunehmende Zweifel an der Unsinnigkeit dieser Anklage ausgerechnet gegen meinen Vater. Nach den Worten von Klemens von Klemperer diente er der Kriegsverhütung »mit angemessener Verbissenheit und Gerissenheit«, mit Hochverrat und dem Risiko des Landesverrates um des Friedens willen. Er blieb erfolglos. Wenn er aber wegen seiner Tätigkeit einen Gerichtsprozeß
zu erwarten hatte, dann wäre Freislers Volksgerichtshof die richtige Instanz gewesen, nicht aber das Militärgericht der Alliierten in Nürnberg. So wurde ja auch durch Zeugen belegt, was vorher Ribbentrop schon geäußert hatte: daß nämlich mein Vater nach dem 20. Juli 1944 nur deshalb vor einer Verhaftung durch die Gestapo bewahrt blieb, weil er für sie unerreichbar geworden war; zwischen seinem damaligen Aufenthaltsort, dem Vatikan, und Deutschland verlief bereits die alliierte Front.
Von einer mehr menschlichen als politischen allgemeinen Erfahrung beim Prozeß möchte ich noch berichten. Sie hängt mit dem amerikanischen Strafprozeßrecht zusammen, das ganz anders strukturiert ist als das unsrige. Bei uns führt der Vorsitzende Richter selbst die Verhandlung. Es ist seine eigene Aufgabe, durch Befragungen und Anleitungen die Wahrheit zu ermitteln. Bei uns gibt es, anders als in den USA, keinen »Ankläger«, sondern den Staatsanwalt. Im Gegensatz zum Verteidiger ist er schon äußerlich durch seine Robe dem Richter gleichgestellt. Von Amts wegen ist er verpflichtet, nur der Wahrheit zu dienen, auch wenn er als Mensch manchmal versucht sein mag, mehr den von ihm Angeklagten zu verfolgen, als ausschließlich die Spur der Wahrheit auch dort zu suchen, wo sie den Angeklagten entlasten könnte.
Im amerikanischen Strafprozeß stehen sich dagegen Ankläger und Verteidiger wie zwei gleichberechtigte Streitparteien gegenüber. Sie bekämpfen sich nicht nur mit Dokumenten und Argumenten, sondern jede Seite setzt ihre Mittel ein, um die Zeugen der Gegenseite als persönlich unglaubwürdig zu
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