Vier Zeiten - Erinnerungen
Stillschweigen bewahrenden Leuten der Gegenseite seine Meisterschaft.
Zum »Wandel durch Annäherung« hatte er sich bekannt, weil er an die politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit des Westens glaubte, die sich bei den Beziehungen zum Osten allmählich durchsetzen würde. Er sah die Sowjets als die Gefangenen eines fehlgedachten und verbrauchten Systems. Keiner der Akteure aus den Reihen der Regierung Brandt war so umstritten wie er, wahrscheinlich auch keiner so interessant und auf seinem Gebiet so einflußreich. Der sowjetische Außenminister Gromyko, als kurz angebundener lakonischer »Njet«-Sager weltbekannt, beriet sich persönlich fünfundfünfzig Stunden mit Bahr, weit länger als mit irgendeinem anderen ausländischen Gast.
Während Bahrs späterer Verhandlungen über einen Grundlagenvertrag mit der DDR nahm ich regelmäßig an seinen vertraulichen Informationsgesprächen im kleinsten Kreis des Bundestages teil. Er sagte gewiß bei weitem nicht alles, was er wußte. Auch bediente er sich des Mittels der Stilisierungen. Aber das, was er sagte, war nicht die Unwahrheit. Sein Charakter nicht weniger als seine Intelligenz hinderten ihn, sich der Lüge zu bedienen.
Wer ihn des mangelnden Willens zur Einheit und Freiheit der Deutschen zieh, tat es, ohne ihn in der Aktion miterlebt und sein Konzept verstanden zu haben. Deutschlands Selbstbestimmung war sein zentrales Thema. Bei den westlichen Verbündeten, nicht zuletzt auch bei Henry Kissinger, galt er oft als deutscher Nationalist von geradezu bedenklichem Ausmaß. Er hatte
das seltene Glück, einen Auftrag zu erhalten, bei dem er persönlich die Verhältnisse seines Landes wirklich bewegen und verändern konnte. Wie wäre es, ihm heute für seine Leistung mit Respekt zu begegnen, wie es ihm gebührt?
Am 12. August 1970 wurde der Moskauer Vertrag unterzeichnet. Der sowjetischen Forderung, formell auf eine Wiedervereinigung zu verzichten, hatte Bonn nicht nachgegeben. Umgekehrt hatte sich Gromyko geweigert, ein Recht der Deutschen auf Einheit in den Vertrag zu schreiben. Statt dessen gab es später den sogenannten Brief zur deutschen Einheit: Der Vertrag stünde nicht im Widerspruch zum Ziel der Bundesrepublik Deutschland, »auf einen Zustand des Friedens in Europas hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt«.
Der Warschauer Vertrag wurde am 7. Dezember 1970 unterschrieben. Er enthielt die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Das war der schmerzhafteste, die Gefühle der Menschen am tiefsten erregende Gang der Bundesregierung. Hier, im Verhältnis zu Polen, zu den alten deutschen Provinzen, zu den grauenhaften Verbrechen im Krieg, zu den unmenschlichen Vertreibungen, ging es um weit mehr als um nüchternen politischen Verstand. Die Gefühle der Völker, die Kraft der humanen Moral, das Herz der Nachbarn standen auf dem Spiel.
Als Brandt den Vertrag unterschrieb, sagte er: »Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an.« Der deutsche Bundeskanzler kniete am Denkmal des Warschauer Ghettos. Mag einer dazu sagen, er selber hätte es nicht getan. Aber hatte nicht ein Augenzeuge recht, als er darüber schrieb: »Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien.« Es war ein unerhörter Vorgang, ein unvorstellbarer Augenblick.
Mit der DDR zu Ergebnissen zu kommen dauerte weit länger. Zunächst trafen sich die Regierungschefs in jedem der beiden deutschen Staaten einmal. Bewegend verlief der Besuch von
Brandt in Erfurt. Voller neuer Hoffnung jubelten die Menschen ihm zu. Sie riefen so lange »Willy, Willy«, bis Brandts Gastgeber sichtbar wurde, der Ministerpräsident Stoph. Dann riefen sie »Willy Brandt«, denn Stoph hieß auch Willi.
Zuerst kam der Verkehrsvertrag zustande, der erhebliche Reiseerleichterungen mit sich brachte. Später folgte der seltsamste der Ostverträge, der sogenannte Grundlagenvertrag. Ich kenne kein zweites Beispiel eines Vertrages, der sich mit seinem Wortlaut dazu bekennt, daß die Vertragschließenden außerstande sind, das Thema zu lösen, das sie selbst ganz ausdrücklich zur Überschrift der Vereinbarung machen. Denn der Grundlagenvertrag enthielt eine Präambel, in der es heißt, daß man sich über vieles, über fast alles einigen könne, nur über eines nicht, nämlich eben über die grundlegenden Fragen, insbesondere nicht über die nationale Frage. Auch das zentrale Problem der Staatsangehörigkeit blieb
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