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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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aus dem Jahr 1965 hatte sich Helmut Kohl bei den Delegierten seines Landesverbandes von Rheinland-Pfalz erfolgreich dafür eingesetzt, mich für einen sicheren Listenplatz zu nominieren, hinter Walter Hallstein und zunächst
noch ohne eigenen Wahlkreis. Es war der Anfang einer zwölfjährigen Mitgliedschaft im Bundestag.
    Kaum war das Parlament zusammengetreten, als es schon zur ersten deutschlandpolitischen Aussprache kam. Charakteristischerweise war es eine Geschäftsordnungsdebatte über den Namen des für die Deutschlandpolitik zuständigen Bundestagsausschusses. Die Union beantragte, die bisherige Bezeichnung »Ausschuß für gesamtdeutsche und Berliner Fragen« beizubehalten. Die Regierungskoalition votierte dagegen für Veränderung in einen »Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen«. Lohnte der Streit? Hatte man nicht in der großen Koalition gerade in bezug auf die Deutschlandpolitik ganz gut zusammengearbeitet, zumal Kiesinger und Barzel mit dem zuständigen Minister Wehner? Oder zeichnete sich hier schon ein radikaler Kurswechsel ab? Bekanntlich haben es politische Bezeichnungsfragen in sich. Leicht können sie zu erbitterten programmatischen Kämpfen ausarten. Dies lag auch hier in der Luft. Denn es gab in beiden großen Lagern kräftige orthodoxe Flügel mit ideologisierten Positionen. Für die einen galt es, im politischen Vokabular keine Andeutung zuzulassen, die auf die bloße Existenz einer DDR schließen lassen könnte. Auf der Gegenseite fanden sich ungeduldige Friedenskämpfer, die sich um ihrer Ziele willen nicht scheuten, die Teilung der Deutschen einfach zu akzeptieren.
    Der neue Fraktionsvorsitzende der Union war der alte aus der Zeit der großen Koalition, Rainer Barzel. Er war deutschlandpolitisch außerordentlich erfahren und verstand es, prinzipientreu und maßvoll zugleich zu operieren. Da er meine langjährigen Verbindungen mit den Ost-West-Fragen in Deutschland kannte, wollte er, daß ich Vorsitzender des zuständigen Ausschusses im Bundestag würde. Diese Rechnung hatte er allerdings ohne den bisherigen Inhaber dieses Amtes gemacht, ohne Johann Baptist Gradl. Es gab eine kleine Rangelei, die damit endete, daß Gradl auf seinem Posten als Ausschußvorsitzender
blieb und ich deutschlandpolitischer Obmann der Fraktion wurde, das heißt ihr Sprecher. Der Streit hatte überdies die Folge, daß es zwischen Gradl und mir in der ganzen, oft schwierigen folgenden Zeit zu einem niemals getrübten und freundschaftlichen Vertrauen kam.
    Also Sprecher sollte ich sein, und so mußte ich gleich bei der allerersten Debatte des neuen Bundestages ans Rednerpult. Im Einvernehmen mit Barzel ging es mir darum, keine deutschlandpolitischen Brücken zum Regierungslager abzubrechen und dennoch den Begriff gesamtdeutsch als Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe zu schützen. Schwer zu begründen war dies nicht. Denn neben unserem elementaren Verlangen nach Einheit waren wir im Sinne eines gesamteuropäischen Entspannungsprozesses von der ausschlaggebenden Bedeutung überzeugt, wie sich die beiden Teile Deutschlands zueinander und nach außen verhielten. Die Bundesrepublik war der Osten des Westens geworden, die DDR der Westen des Ostens. Trotz dieser doppelten Randlage blieb Deutschland von den Bedingungen seiner Lage in der Mitte geprägt. Die Mitte war geteilt, aber sie blieb Mitte und hatte als solche ihr Interesse und ihre Verantwortung für ganz Europa. Der Gedanke an unsere eigene Einheit wäre ohne eine friedliche Entwicklung auf dem Kontinent rings um uns herum völlig unrealistisch geblieben. Es gab also wirklich Friedensaufgaben beider Teile Deutschlands in einem gesamtdeutschen Sinn, wie wir sie in unserer Studie der evangelischen Kirche ausgearbeitet hatten.
    Erwartungsgemäß wurde der Streitfall aber durch Mehrheit gegen uns entschieden. Zu mehr als einem - laut Protokoll - »Beifall von allen Seiten« reichte es bei meiner Jungfernrede nicht. Das Wort »gesamtdeutsch« verschwand gegen mein Votum aus der Geschäftsordnung des Bundestages.
    Es war mehr als eine bloße Formalität; aber sie war erledigt. Sofort danach ging es zur Sache selbst. Die nun folgende Ostpolitik der Regierung Brandt wurde nicht nur für uns Deutsche,
sondern für den ganzen internationalen Ost-West-Konflikt von so großer Bedeutung, daß das Wort »Ostpolitik« ohne Übersetzung in den Wortschatz fremder Sprachen übernommen wurde, zumal ins Amerikanische. Dort lebt es seither als ein typisch deutscher Ausdruck fort und

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