Vier Zeiten - Erinnerungen
Friedensvertrag nicht preisgeben, dessen Hauptthema die Zukunft der deutschen Einheit sein sollte.
Von elementarer Bedeutung und zugleich besonders schwierig war es, ein Abkommen über Berlin zu erreichen. Für die Zukunft mußten neue Berlin-Krisen ausgeschlossen und die verschiedenen
Zugangsrechte nachhaltig verbessert und gesichert werden. Dies lag nun ganz eindeutig und ausschließlich in der Hand der vier Mächte.
Schließlich war Bonn ohne ein solches Berlin-Abkommen mit vollem Recht zu keinem Abschluß mit Moskau und Warschau bereit. Umgekehrt wollte aber Moskau erst nach der Ratifizierung eines sowjetisch-deutschen Vertrages durch den Bundestag über Berlin verhandeln.
Heute, ein Vierteljahrhundert später und nach geglückter Vereinigung Deutschlands, reden wir über alle diese Komplikationen, als wären es Bagatellen gewesen und als hätte es sich um eine nie anders denkbare, politisch zwingende und folglich organisch ablaufende Entwicklung gehandelt. Davon konnte zu jener Zeit nicht im entferntesten die Rede sein. Die Ostpolitik war eine wahrhaft gewagte, in ihrem Ausgang bis zuletzt ungewisse Operation.
Deutschland hatte den Krieg angefangen, ihn nach fast ganz Europa getragen, unvorstellbar schweres Unrecht verübt und selbst erlitten. Wegen der Spaltung der Sieger war es nie, wie sonst in der Geschichte üblich, zu einem Friedensvertrag gekommen. So war es jedenfalls formal offengeblieben, welche Kriegsfolgen die Deutschen endgültig zu akzeptieren hätten und hinzunehmen bereit sein würden, insbesondere welche geographischen Konsequenzen. Deshalb hatten sich in unserem Land lange Hoffnungen auf Korrekturen der faktisch geschaffenen Lage am Leben gehalten, vor allem die Hoffnung von Vertriebenen auf Rückkehr in die angestammte alte, jetzt polnisch oder russisch gewordene Heimat oder in das Sudetenland.
Die Siegermächte und mit ihnen praktisch die ganze Welt hatten sich im Lauf der Jahrzehnte jedoch mit dem nun einmal eingetretenen Status quo ohne Friedensvertrag mehr oder weniger abgefunden. Deutsche Hoffnungen hatten sich allmählich in Illusionen verwandelt.
Die Sowjetunion war freilich noch nicht am Ziel ihrer Wünsche.
Ihr ging es um die formelle Legitimierung des Status quo, also vor allem ihres faktischen gewaltigen Machtzuwachses in Mitteleuropa.
In dieser Lage ergriff nun eine deutsche Regierung selbst die Initiative. Sie machte sich daran, traditionelle Fesseln abzustreifen, die eingetretenen und festgefahrenen Folgen des Krieges hinzunehmen, den Status quo nicht in Frage zu stellen, aber ohne die Verfassungsziele zu gefährden, also vor allem die Zukunftsperspektive der deutschen Einheit.
Es war auch deshalb so schwierig, weil unsere westlichen Verbündeten nun auf einmal mit ansehen sollten, daß nicht mehr sie die Richtung der europäischen Ostpolitik zu bestimmen schienen, sondern daß die Deutschen, soweit es um Deutschland ging, selber handelten, und zwar in einem beinahe atemberaubenden Tempo.
Die Zumutungen der Regierung Brandt an die eigene Bevölkerung waren ganz gewiß nicht geringer: Diese sollte jetzt in aller Form akzeptieren, daß beinahe ein Viertel des Vorkriegsterritoriums von Deutschland endgültig verloren sei. Darauf hatte sie bisher keine politische Führung in Bonn ernsthaft vorbereitet. Und im Verhältnis zur DDR und einer künftigen Einheit sollte sie verstehen und gutheißen, was Egon Bahr mit seinem Schlüsselbegriff, dem berühmten »Wandel durch Annäherung« proklamiert hatte. Brandt hatte hinzugefügt: »Wir haben von den heutigen Tatsachen auszugehen, wenn wir die Tatsachen verändern wollen« - keine auf Anhieb verständliche plakative Paradoxie.
Die Verhandlungen begannen. Die Schlüsselfigur auf deutscher Seite war Egon Bahr. Seit vielen Jahren war er der engste Berater von Brandt für die Ost- und Deutschlandpolitik. Ein selten anzutreffendes wechselseitiges Vertrauensverhältnis war entstanden, ein Zusammenspiel von Instinkt bei Brandt und Verstand bei Bahr, eine Partnerschaft, die kaum vieler Worte bedurfte. In ihrer Wirkung war keiner von beiden ohne den anderen
denkbar. Als Bahr auf die Verhandlungsreise geschickt wurde, hatte er weder ein politisches Mandat noch eine diplomatische Praxis. Er handelte als Beamter mit allerhöchster Vollmacht, auf deren Umfang er freilich selbst den größten Einfluß hatte. Neben der offiziellen Gesprächsebene entwickelte er in geheimnisumwitterten, quasi konspirativen Kontakten mit hochangesiedelten, das
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