Vier Zeiten - Erinnerungen
Überzeugung hätte sich die Union im Falle eines Erfolges in
einer unbeherrschbaren Lage befunden: ohne ostpolitische Klärung im eigenen Lager, mit einer wachsenden Stimmung in der Bevölkerung zugunsten der Entspannung, mit permanent ungeklärten Mehrheitsverhältnissen im Parlament und unter der Drohung einer unvermeidlichen außenpolitischen Isolierung. Wie Schmidt, der Barzel stets sehr schätzte, in seinen »Weggefährten« berichtet, hat ihm Barzel selbst später einmal gesagt, die Lage sei für die Union kaum zu meistern gewesen.
Die große Mehrheit in der Unionsführung setzte jedoch den Plan durch; wir drei Opponenten sagten zu, dieser Mehrheitsentscheidung zu folgen. Am 27. April 1972 kam es zur Abstimmung. Zuerst hielt Scheel in der Debatte eine an Schärfe und Verbitterung kaum zu überbietende Rede, offenbar in der sicheren Erwartung einer Niederlage der Regierungskoalition. Da mein parteiinterner Widerstand gegen den Antrag öffentlich bekannt geworden war, bat mich Barzel, mich an der Aussprache zu beteiligen. Ich tat es und sagte lediglich, einer moralischen Verurteilung dürfe niemand ausgesetzt werden, der ein verfassungsmäßig ausdrücklich verbrieftes Recht wie diesen Mißtrauensantrag nutze. Niemand wisse, wie die Abstimmung ausgehen werde. Wer nicht verlieren könne, handele ebensowenig im Sinne unserer Demokratie wie der, welcher die Verantwortung scheue. Die Abstimmung endete mit einer Niederlage für Barzel. Zwei Stimmen fehlten ihm. Es ist nie eindeutig aufgeklärt worden, welche es waren.
Die folgenden drei Wochen wurden zu einem kaum noch zu entwirrenden Knäuel von offenen Schlachten und vertraulichen Kontakten, von erbitterten Kämpfen und Brückenbauten. Gemeinsam mit den vertrauten Fraktionskollegen und Freunden Olaf von Wrangel und Walther L. Kiep versuchte ich, Gräben zu überwinden. Kontrovers und schließlich doch gemeinsam zwischen Regierung und Opposition wurde an dem Entschließungsantrag zur deutschen Einheit gefeilt, den die Sowjetunion wort- und widerspruchslos entgegennehmen sollte. Der sowjetische
Botschafter Falin wurde gewissermaßen als Sachverständiger hinzugezogen - ein kaum je erlebter Vorgang, daß der Missionschef eines fremden Landes quasi als Bindeglied in unserem innenpolitischen Konflikt zu fungieren hatte. Der Sinn der Erklärung war es, der Opposition die Zustimmung zu den Verträgen zu ermöglichen. Das war Barzels vernünftiges Ziel. Aber seine Lage wurde immer angespannter, weil sich die Stimmung in der Unionsfraktion ständig verhärtete. Die größten Schwierigkeiten machte ihm Strauß, der zwar die Entschließung persönlich mitentworfen hatte und Barzel zuerst helfen wollte, wegen der Atmosphäre in der heimatlichen Parteibasis aber plötzlich wieder umschwenkte und sich anschickte, die CSU zum Nein anzuführen.
Die Atmosphäre war allseits geladen. Sie führte auch mich in eine extreme Lage. Aufgrund des Patts im Bundestag brauchte die Regierung nur eine einzige zusätzliche Stimme aus den Reihen der Opposition für die Verträge. Sollte diese Stimme meine Rolle sein? Ich hatte kein Verlangen nach einer einsamen Heldenrolle, war aber entschlossen, das Meinige beizutragen, um die Verträge nicht scheitern zu lassen und zumal dem Warschauer Vertrag zuzustimmen.
Gerade hatten wir die aufgeheizte Stimmung im Bundestag beim konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Brandt erlebt. Dabei hatten mehrere Abgeordnete der SPD mich im Plenum mit Fäusten bedroht, weil ich das Wort ergriffen hatte - je nun. Kurz darauf kam es in der eigenen Fraktion zu erregten Szenen. Ich erklärte und begründete dort, daß und warum ich für den Warschauer Vertrag stimmen würde, gemeinsam mit den Kollegen Erik Blumenfeld und Winfried Pinger. Darauf entstand ein Tumult. Mit feindlichen, in einzelnen Fällen mit wütenden Ausbrüchen wurde mir bedeutet, ich solle mich heraus aus der Fraktion und zum Teufel scheren. Hinzu kamen ungezählte Zuschriften, die mich in unzitierbarer Form des Verrats und Verbrechens ziehen.
Worte, die in der Erregung fallen, sind nicht auf die Goldwaage zu legen. Aber ich konnte natürlich nicht verkennen, daß viele Leute in den eigenen Reihen ehrlich und ernsthaft empfanden, ich gehörte nicht zu ihnen. Und ich konnte gar nicht umhin, mich auch selbst gründlich und gewissenhaft zu fragen, ob ich austreten solle.
Gedient hätte es jedoch niemandem, wenn ich diese Konsequenz gezogen hätte. Das wurde mir rasch klar. Es ging ja nicht um mich,
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