Vier Zeiten - Erinnerungen
Sozialdemokraten und FDP-Abgeordnete versagten der Regierung Brandt ihre Unterstützung. Die Lage im Bundestag wurde völlig unberechenbar.
Im Februar 1972 erfolgte die erste Lesung der Ostverträge. Hier sprach Barzel sein »Jetzt nicht« und »So nicht«. Es war Ausdruck seiner schier unlösbar schwierigen Lage. Den Zwiespalt, den das ganze Land kennzeichnete, mußte er in sich selbst austragen. Gemeinsam mit Gerhard Schröder und mir, zwei anderen
Debattenrednern, kritisierte er nicht das ostpolitische Ziel, wohl aber den Weg der Bundesregierung, der voller Zweideutigkeiten stecke. So hatte zum Beispiel, worauf ich in der Aussprache hinwies, der französische Präsident Pompidou gerade erklärt, daß er sich freue, wenn die Bundesregierung die DDR anerkennen wolle, unter welchem Namen auch immer sie dies täte. Die Bundesregierung bestritt eine solche Anerkennung und berief sich dennoch ständig auf das Lob des Auslandes zu ihrer Politik, besonders aus Frankreich. Barzel hielt das Vertragskompendium noch für unreif. Vor allem aber hatte er als Vorsitzender die Aufgabe, die Fraktion zusammenzuhalten. Und dort gab es viele, die sich voller Überzeugung, zum Teil voller Zorn gegen Weg und Ziel der ganzen ostpolitischen Operation von Willy Brandt zur Wehr setzten.
Auf der anderen Seite sah Barzel genau, in welcher Lage wir alle zusammen in der Bundesrepublik waren. Außenpolitik ist Sache der Exekutive. Das Parlament kann darüber debattieren, kann kritisieren und anregen, aber es kann kaum je selbst international verbindlich handeln. Praktisch die einzigen Ausnahmen sind völkerrechtlich wirksame, ratifizierungsbedürftige Verträge. Ihre Rechtskraft hängt vom Votum der Legislative ab. Dennoch klingt auch dies nach mehr parlamentarischer Macht, als zu allermeist vorhanden ist. Denn die Verträge werden von den Regierungen unterschrieben, und bereits damit beginnen sie ihre konkrete außenpolitische Wirksamkeit zu entfalten, ohne daß das Ausland die parlamentarische Ratifizierung abwartet.
So war es in ganz besonderem Maß bei diesen Ostverträgen. In der noch immer nur halb souveränen Funktion der deutschen Staaten hatte Bonn große Ost-West-Weltpolitik gemacht und die vier Mächte verbindlich einbezogen. Diese ruderten mit im selben Boot, ob mit oder ohne inneren Vorbehalt. Die Verhandlungen über das Berlin-Abkommen waren in vollem Gang. Die große gesamteuropäische Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit war bereits allseits in Vorbereitung. Ein Nein des
Bundestages zu den Ostverträgen hätte die Bundesrepublik in eine bisher nie erlebte und unseren Interessen massiv zuwiderlaufende Isolierung gebracht. Barzel war sich dieser Lage voll bewußt. Wenn auch schweren Herzens erkannte er, der Ostpreuße, daß es die Union nicht verantworten könne, die Verträge scheitern zu lassen, wollte aber um der Fraktion willen noch Zeit gewinnen. Was hätte er sonst tun sollen? Als Alternative hätte es sonst für ihn nur den Rücktritt gegeben, und das hätte die Lage lediglich verschlimmert.
Es erleichterte Barzels Aufgabe nicht, daß Schröder, der seit der Wahl 1969 als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses zur Ostpolitik konsequent geschwiegen hatte, in der ersten Lesung eine eindrucksvolle Rede hielt, in der er auf der einen Seite der Regierung ausdrücklich denselben Patriotismus zuerkannte wie sich selbst, ihre Verträge aber rundheraus ablehnte.
Meinerseits versuchte ich, Barzel so gut wie möglich zu helfen. Ich trug nicht das ganze Maß seiner Verantwortung. So war es für mich leichter, weiterzugehen als er. Ich hielt die Annahme der Verträge nicht nur für unvermeidlich, sondern für richtig, vor allem die des Warschauer Vertrages, der freilich ohne den Moskauer Vertrag nicht zu haben war.
Die entscheidende zweite und dritte Lesung stand für den Mai 1972 auf der Tagesordnung. Davor kam es zu einem höchst prekären Zwischenspiel. Durch die baden-württembergische Landtagswahl hatte die sozialliberale Koalition die Mehrheit im Bundesrat verloren. Im Bundestag war es mittlerweile zwischen Regierung und Opposition zu einem Stimmenpatt gekommen. In der Führung der Unionsparteien hoffte man auf zwei weitere Stimmen, und so wurde das Verlangen nach einem konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Brandt zugunsten von Barzel unwiderstehlich. Zuvor war noch im Bundesvorstand der CDU darüber debattiert worden. Zusammen mit Hans Katzer und Gerhard Stoltenberg sprach ich dagegen. Denn nach meiner
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