Vier Zeiten - Erinnerungen
ungeklärt.
Dennoch sahen beide Seiten unterhalb der Grundlagen Chancen für eine Realisierung ihrer Interessen. Ost-Berlin erreichte die Anerkennung als selbständiger, gleichberechtigter Staat und die Preisgabe des Bonner Alleinvertretungsanspruches, ferner die gleichzeitige Aufnahme beider Deutschlands als von einander unabhängige Mitglieder in die Vereinten Nationen. Erstmals wurde ein amerikanischer Botschafter in der DDR akkreditiert, auch das ein großer Prestigegewinn für die DDR. Das alles war eine ansehnliche und ziemlich prinzipielle Beute. Die SED reklamierte nun, Deutschland sei nicht nur in zwei Staaten geteilt, sondern in zwei Nationen, in eine »sozialistische« und eine »kapitalistische«.
Die Vorteile für die Bundesrepublik lagen in den einzelnen, die Bürger beider Staaten persönlich berührenden Fragen. Eine unübersehbar große Anzahl von Menschen war in ihrem Leben ganz konkret und positiv davon betroffen, so bei der Familienzusammenführung, den Reisen in dringenden Familienangelegenheiten, dem kleinen Grenzverkehr, dem Rechtsschutz, dem Sport und den Medien.
Schließlich kam das Berlin-Abkommen hinzu. Die Verhandlungen lagen in der Hand der vier Mächte. Das entscheidende Interesse aber hatten nicht sie, sondern die Deutschen. Gewiß waren die Westmächte der Entspannungspolitik zugeneigt. Selbst die gewaltsame Unterdrückung des Prager Frühlings im August 1968 hatte daran nichts geändert. Der französische Außenminister Michel Debré, ein Gaullist reinsten Wassers, hatte den Vorgang als einen »Verkehrsunfall auf dem Wege zur Entspannung« heruntergespielt.
In Washington war man über den ostpolitischen Klimawechsel der Bonner Politik prinzipiell eher erleichtert als beunruhigt. Aber man wollte sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen. Gegenüber einem hohen Bonner Diplomaten hatte Henry Kissinger 1970 geäußert: »Das eine sage ich Ihnen: Wenn Entspannungspolitik, dann machen wir sie, und nicht Sie.« Für den großen Rahmen der Ost-West-Politik hatte er damit auch recht. Im Bereich der Deutschlandfragen und der Lage Berlins aber blieb es weitgehend sein frommer Wunsch. Die Initiative lag bei den Deutschen. Mit Anstrengung und Erfolg wurden die Westmächte zum Jagen der Berlin-Verhandlungen getragen. Nach langwierigen, oft zermürbenden Auseinandersetzungen kam am Ende ein höchst komplexes Werk von Haupt- und Nebenabsprachen zustande. Die Definition dessen, was für uns erwünscht und annehmbar sein könnte, war in Bonn erfolgt. Mit dem Ergebnis ließ sich im freien Teil Berlins ganz gut leben. Ich habe es später als Regierender Bürgermeister selbst nachhaltig erprobt.
Würde man über die Vaterschaft für das Berlin-Abkommen ein erbbiopolitisches Gutachten entscheiden lassen, so würden gewiß einige Kennzeichen von Kissinger, Gromyko oder Abrassimow, dem sowjetischen »Vizekönig« in der DDR, zum Vorschein kommen. Die Alimente für das neue Lebewesen aber müßte doch wohl Egon Bahr bezahlen. Es war seine Leistung für seine und meine Stadt, für unsere Hauptstadt.
Ratifizierung der Ostverträge im Bundestag
Doch das Schwierigste und für den deutschen Beitrag zur ganzen Ostpolitik Entscheidende war noch nicht geschafft, die Ratifizierung des Moskauer und des Warschauer Vertrages durch den Deutschen Bundestag.
Die Stimmung im Lande war einer Friedens- und Entspannungspolitik mehrheitlich zwar durchaus günstig. Aber aus eigenem freiem Willen formell auf die jahrhundertealte Heimat von Millionen von Deutschen jenseits von Oder und Neiße zu verzichten, das ging über die Kraft ungezählter Menschen. Ein tiefer Zwiespalt zog sich durch das Land, durch Generationen, Familien und Freundschaften, zumeist ein Konflikt zwischen Einsicht und Empfindung, der sich natürlich auch bei den Parteien und ihren Abgeordneten wiederfand. Und so kam es im Parlament zu etwas ganz anderem als einer der üblichen Plenardiskussionen unter rollenbewußten professionellen Rednern. Es entwickelte sich eine Debatte voller menschlicher Hingabe und Leidenschaft, geprägt durch ein ständiges Hin und Her zwischen Konfrontation und Kooperationsbereitschaft, sachlichem Ernst und Polemik, Enttäuschung und Zuversicht. Auch nach fünfundzwanzig Jahren kann ich an diese Zeit nur mit innerer Erregung denken.
Eine Begleiterscheinung der tiefgehenden Auseinandersetzung war die dahinschmelzende Mehrheit der Regierungskoalition. Es kam zu den ersten Fällen sogenannter Überläufer. Mehrere
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