Vier Zeiten - Erinnerungen
angetragen,
ich solle Generalsekretär der CDU werden. Wäre ich seinem Vorschlag gefolgt, so wäre dies zur Abwechslung einmal eine für mich höchst aussichtsreiche Kandidatur geworden. Bisher hatte ich mich ja mehr im heiteren Ertragen von Wahlniederlagen zu üben Gelegenheit gehabt. Diesmal aber sagte ich von vornherein ab. Ich sah mich außerstande, Wahlkampfstrategien zu entwerfen und unaufhörlich die anderen Parteien angreifen zu sollen. Statt dessen übernahm ich auf Barzels Bitte den Vorsitz in einer von ihm angeregten Grundsatzkommission, von deren Arbeit noch zu berichten sein wird.
Auch im Regierungslager brodelte es personell. Dem großen Wahlsieg der sozialliberalen Koalition folgte eine Phase ihrer Erschöpfung, vielleicht auch ihrer Selbstüberschätzung. Brandt wirkte müde. Zum offenen Ausbruch gegen ihn kam es im Herbst 1973 auf der ersten Reise einer Parlamentarierdelegation in die Sowjetunion. Wir waren zu fünft, angeführt von der Bundestagspräsidentin Annemarie Renger. Die anderen Mitglieder waren die Fraktionsvorsitzenden der SPD und der FDP, Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe Richard Stücklen und ich, damals stellvertretender Vorsitzender meiner Fraktion.
Gleich nach der Ankunft auf dem Moskauer Flugplatz gab Wehner schon ein erstes, scharf kritisches Interview gegen Brandt. Abends in der deutschen Botschaft kam sein außenpolitischer Mitarbeiter Selbmann sorgenvoll zu mir und bat, ich solle mich zu einer Runde von Journalisten gesellen, die Wehner im Halbkreis um sich versammelt hatte und mit seinen berühmt gewordenen Stichworten versah: »Die Nummer eins« sei »entrückt«, sie »bade gern lau in einem Schaumbad«, »was der Regierung fehlt, ist ein Kopf«. Selbmann meinte, Wehner würde vielleicht aufhören, wenn ich dabeisäße. Da hatten wir beide Wehner gründlich unterschätzt.
Während der Reise saß ich einmal drei Stunden neben Wehner. Auf meine Frage, warum er ausgerechnet hier in der Sowjetunion
seinen Kanzler so scharf aufs Korn nähme, sagte er, nichts anderes habe er zu Hause mehrmals getan, ohne Gehör zu finden. Brandt lasse die Dinge schleifen, und das sei nach innen und außen gefährlich. Wenn es jetzt ein starkes Echo gäbe, so seien zwei Folgen denkbar. Entweder nehme Brandt die Zügel wieder auf und bessere sich. Dann sei es gut. Oder es bleibe alles beim alten, wie bisher, und dann habe er, Wehner, nichts verdorben.
Wir sprachen lang über Herkunft und Jugend. Meinen Bericht über glückliche Berliner Kindheitsjahre während der Weimarer Zeit quittierte er mit dem Kommentar, das sei eben der Unterschied zwischen der behüteten Jugend eines Beamtensohnes und seinen, Wehners, Erlebnissen als steckbrieflich verfolgter junger Kommunist.
Für ihn brachte die Reise mit der Bundestagsdelegation ein erstes schweres Wiedersehen mit den Leuten und Stätten seiner geheimnisumwitterten, ihn lebenslang belastenden Moskauer Vergangenheit. Seine Erfahrungen waren so zwiespältig wie die Begegnungen, die wir anderen mit ihm über die Jahre hinweg hatten. Oft hatte er tagelang ziemlich im Hintergrund an Kirchentagen teilgenommen. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag im April 1970 hatte er mir mit der Hand »durch alles Getümmel hindurch« einen kurzen, zarten und zu Herzen gehenden Brief geschrieben, frei von all den unsäglichen Routinefloskeln der üblichen politischen Gratulationspoesie.
Im Jahre 1974 erlebte ich dann einen ganz anderen Wehner. Brandt war am 6. Mai dieses Jahres zurückgetreten. Am 15. Mai sollte als Nachfolger von Heinemann der neue Bundespräsident gewählt werden. Scheel war der Kandidat der Regierungskoalition, die in der Bundesversammlung über die Mehrheit verfügte. Die Unionsparteien, diesmal also auch die CSU, hatten mich als Gegenkandidaten nominiert. Am darauffolgenden Tag, am 16. Mai, ging es im Bundestag um die Wahl des neuen Bundeskanzlers. Wehner, der selbst maßgeblich zum Rücktritt Brandts
beigetragen und dadurch in den eigenen Reihen auch starken Widerspruch ausgelöst hatte, war sich über die Mehrheit für die entscheidende Kanzlerwahl nicht ganz sicher. Deshalb machte er jede Anstrengung, um die Präsidentenwahl am Vortag quasi als Generalprobe für die Kanzlerwahl ohne Panne zu überstehen. Zu diesem Zweck donnerte er in einer Panorama-Sendung die Wahlmänner und -frauen seiner Koalition an, wer nicht für Walter Scheel stimme, der spiele die Rolle der NPD. Also war es ein Akt von Neonazismus,
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