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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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sondern um die Verträge. Und da gab es Wege, sie durchzubringen, ohne ein spektakuläres persönliches Drama zu veranstalten.
    Was dann folgte, war bitter und unvermeidlich zugleich. Gegen Schluß einer vielstündigen fraktionsinternen Debatte plädierte Hallstein in einem schier endlosen Beitrag von vorn bis hinten gegen die Verträge; da es aber das Wichtigste sei, als Fraktion im Votum zusammenzubleiben, sollten die Jasager ebenso wie die Neinsager sich gemeinsam mit dem Gros der Stimme enthalten. Barzel konnte gar nicht anders, als dieser Marschroute zu folgen. Mit der Enthaltung war sein Ziel erreicht: die Verträge konnten passieren.
    Zu Unrecht hat man ihm diese Haltung oft vorgeworfen. Er allein hatte die unsägliche Aufgabe, die in sich zerrissene Fraktion über Wasser zu halten. Mit seiner Entscheidung hat er der deutschland- und außenpolitischen Lage unseres Landes eine schwere Krise erspart. Das war eine große Leistung. Am Ende hat er damit seine eigene politische Zukunft zur Disposition gestellt.
    Bei mir blieb eine Wunde zurück. Gewiß war es auch für mich das Wichtigste, daß die Verträge nicht scheiterten. Dazu hatte ich maßgeblich beigetragen. Denn ich hatte als erster im Fraktionsplenum offen erklärt, daß ich, auch wenn alle anderen gegen die Verträge seien, mit Ja stimmen wolle. Damit waren die Pläne der Neinstrategen gescheitert, die die ganze Vorlage zu Fall bringen wollten, dazu aber aller Stimmen der Fraktion bedurften.
Dennoch empfand ich den Vorgang als deprimierend. In einer gewaltigen fraktionsinternen Redeschlacht über eine zentrale deutsche Lebensfrage hatte der Unionsberg gekreißt und eine magere Enthaltungsmaus zur Welt gebracht. Bei einer der ganz wenigen schlechthin ausschlaggebenden Entscheidungen unseres Landes erweckte die Hälfte der Mitglieder des Deutschen Bundestages durch ihre Stimmenthaltung den Eindruck, als hätten sie keine Meinung. Das war und bleibt für mich ein Makel. Ich hatte getan, was ich tun zu können und zu müssen glaubte. Aber es war nicht genug.
    Die Verträge waren nun angenommen. In allen Hauptstädten des Ostens und vor allem auch des Westens herrschte Erleichterung. Brandt erhielt den Friedensnobelpreis. Bei der nächsten Bundestagswahl wurde er mit einer komfortablen Mehrheit für seine Koalition belohnt.

Gipfelkonferenz der KSZE in Helsinki; noch einmal Polen-Verträge
    Später folgte der multilaterale Schlußstein der Ostpolitik, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Im Sommer 1975 versammelten sich fünfunddreißig Staats- und Regierungschefs in Helsinki und verabschiedeten dort die sogenannte Schlußakte.
    Der Sowjetunion brachte sie die von ihr erwünschte allseitige Bestätigung dessen, was sie bilateral von Bonn schon erhalten hatte: Gewaltverzicht und Anerkennung des Status quo, wie ihn der Zweite Weltkrieg am Ende geschaffen hatte.
    Aber die Schlußakte ging über diese Bestätigung der russischen Kriegseroberungen weit hinaus oder, anders gesagt, sie begann damit, einen europaweiten Standard für die Rechte von Menschen und Minderheiten zu setzen. Das war der sogenannte Korb 3 der Schlußakte, der diese Bestimmungen enthielt.

    Die Verhandlungen über die KSZE führten zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß schließlich die Russen darüber besorgt sein mußten, mit dem, was sie so viele Jahre hindurch angestrebt hatten, etwas ganz anderes, ihnen Unerwünschtes erreicht zu haben, während der Westen, der sich so lange gesträubt hatte, die Konferenz überhaupt zustande kommen zu lassen, am Ende Grund hatte, froh und dankbar zu sein. Vor allem die neutralen Staaten trugen wesentlich zu diesem Erfolg bei.
    Auch wenn die ganze Schlußakte von Helsinki nur Absichtsbekundungen enthielt, die nicht völkerrechtlich einklagbar waren, so war es schließlich doch der Korb 3, der den Grundstein für die Freiheitsbewegungen im Bereich des Warschauer Paktes legte. Keine Solidarność in Polen, keine Charta 77 in Prag und keine Dissidentengruppe in der DDR hätte sich ohne die Bestimmungen von Helsinki über Meinungsfreiheit, Informationsaustausch und Reiseerleichterungen so entfalten können, wie es später geschah. Der Prozeß der inneren Aufweichung nahm nun seinen allmählichen Lauf. Zwar brachte er noch scharfe Zuspitzungen und Gefahren im Ost-West-Verhältnis mit sich. Aber die Gedanken der Schlußakte von Helsinki bestimmten nach Rückschlägen auch immer wieder die Richtung. So wurde die Konferenz von Helsinki im Jahr

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