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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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sprach von meinem Kind so, als ob es schon weg wäre, obwohl es noch nicht einmal da war!
    »Wie bitte?«, fuhr ich die Frau an, und ich glaube, ich wurde dabei sogar ein bisschen laut. »Das Kind
hatte?
Das Kind
war?
Jetzt hören Sie mir mal zu! Das Kind
ist
in meinem Bauch drin, es lebt! Dem Kind geht es gut, es hat keine Schmerzen! Das überlassen Sie bitte mal uns, was aus dem Kind wird!«
    »Ach so?« Die Ärztin hob die Augenbrauen. »Sie haben also noch nicht entschieden, dass Sie abtreiben? Ach!«
    »Nein«, ich glaube, ich schrie mein Gegenüber jetzt an, »das haben wir noch nicht!«
    Daraufhin holte sie wortlos ein Buch hervor, um etwas über unsere Diagnose zu lesen. Sie fand Etliches über den übergeordneten Begriff für Fehlbildungen des Neuralrohres. Eine Fehlbildung, die umgangssprachlich auch »offener Rücken« genannt wird und nicht so selten auftritt – doch über die sehr seltene Diagnose unserer Erdbeere, über die Öffnung in der Schädelkalotte unseres Kindes, durch die Hirnanteile nach außen traten, darüber fand sie nichts. Das Ergebnis unseres Gesprächs bestand darin, dass ich stinksauer war und kurz davor, jemanden vor Wut anzuspringen – und dass wir eine Punktion machen lassen wollten, um festzustellen, ob bei unserem Kind noch andere Defekte vorlägen und ob die Fehlbildung mit meinem oder mit Tibors Erbgut zusammenhinge. Dieses Wissen würde unserer Erdbeere zwar nicht weiterhelfen, es würde sie kein bisschen gesünder machen, doch, so dachte ich, es würde uns helfen, die Krankheit und alles, was damit zusammenhing, besser einordnen zu können.
    Als wir wieder draußen im Warteraum saßen, hatte ich das Gefühl, dass mich die Arzthelferin prüfend ansah – vermutlich hatte ihr die Ärztin, mit der wir eben gesprochen hatten, schon gesteckt, dass ich vor Wut raste. Mir war das in diesem Moment egal, denn ich hatte beschlossen, um meine Entscheidung zu kämpfen, und ich fühlte mich schon nach ein paar Blickwechseln im Einvernehmen mit Tibor: Wir waren hier, um Diagnosen und medizinische Aussagen präsentiert zu bekommen. Wir waren aber nicht hier, um Urteile zu hören, Ratschläge oder unterschwellige Empfehlungen. Das Urteil bestand in der infausten Diagnose für unser Kind, wie eine prinzipiell unheilbare Erkrankung in der Medizin genannt wird. Deren Bewältigung und die Entscheidung, wie damit umzugehen sei, so war unser Gefühl, nein: so hatten wir stillschweigend entschieden, sollten die Ärzte uns überlassen!
    In diese Gedanken vertieft, warteten wir auf die Psychologin vom »Sozialdienst katholischer Frauen«, die uns auf Vermittlung von Professor Chaoui gleich hier in der Praxis beraten sollte. Ich war zu ausgelaugt für weitergehende Analysen oder Planungen, aber ich fürchtete mich doch: Was, dachte ich, wenn nun eine liebe alte Schwester in Nonnentracht hereinkäme und uns lächelnd von allen Kindern als Geschöpfen Gottes erzählte, denen der Mensch nichts antun dürfe, komme, was wolle? Was, wenn sie mit uns die Hände falten und beten und auf die göttliche Vorsehung hoffen wollte? Nun bin ich selbst Christin. Ich bin in diesem Sinne aufgewachsen, ich stamme aus einem christlichen Elternhaus in der ehemaligen DDR , wo es meine Eltern alles andere als leicht hatten, ihren Glauben zu leben. Ich war zeit meines Lebens in der evangelischen Freikirche verankert, seit einigen Jahren zusammen mit meinem Mann. Der Katholizismus blieb mir immer fern – ich kann nur wenig anfangen mit seinen Riten, Traditionen und all der damit verbundenen Pracht. Ich war skeptisch, weil in meinen Augen Katholiken in Fragen wie Sexualität und Fortpflanzung aufgrund der kirchlichen Lehre nicht gerade glaubwürdig sind in ihren Meinungen und Urteilen. Kurzum: Was könnte ich mir von einer Nonne schon über den Umgang mit einem schwer geschädigten Embryo erzählen lassen?
    Diese aufkommenden Gedanken wurden von einem hellen Klack-klack-klack zerrissen. Das Geräusch kam von den Pumps, in denen die Psychologin aus der Schwangerschaftsberatung des »Sozialdienstes katholischer Frauen« über den Gang stöckelte, in schicken Jeans und Bluse. Ich konnte mir, glaube ich, das Lächeln nicht verkneifen, als sie die Tür öffnete. Ich atmete erst mal tief durch – wenn die katholische Beraterin so aussah, musste sie mehr vom Leben verstehen als von der Welt der Nonnen und Klosterbrüder.
    So war es auch: Sobald sie in dem Zimmerchen ankam, in dem wir uns tags zuvor die Seele aus dem Leib

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