Viereinhalb Wochen
Fricke sprach langsam und konzentriert mit uns. Es war die richtige Art, in jenem Moment.
Nach diesem Gespräch wussten wir, dass wir ein Schreiben aufsetzen würden mit folgender Ansage – an alle Verwandten, Freunde, Bekannten:
Wir sind nicht da, ruft uns nicht an, wir wollen keinen Kontakt!
Wir wussten, dass wir weiterarbeiten wollten mit der Psychologin.
Wir wussten, dass wir ans Meer fahren werden, kurzfristig, sobald das ginge.
Wir wussten, dass wir im Moment keine langfristigen Pläne schmieden würden.
Wir wussten, dass wir uns erst einmal damit befassen mussten, durch den Tag zu kommen. Tibor, ich und unser ungeborenes Kind.
Und wir wussten, dass uns keiner helfen könnte. Dass wir niemanden um Rat fragen würden.
Wir wussten aber nicht, welcher Teil des Gehirns unserer Erdbeere geschädigt war. Wir wussten nicht, wie lange unser Kind leben würde, wenn es denn je lebend auf die Welt käme. Und wir hatten keine Ahnung davon, wie dieses Leben aussehen würde. Wäre es voller Schmerzen? Voller Freude? Oder wäre es ein Dahinvegetieren, abhängig von medizinischen Apparaten?
»Überlegen Sie sorgfältig und spüren Sie gut in sich hinein«, gab uns Frau Fricke mit auf den Weg. »Sie treffen eine Entscheidung über Ihr gemeinsames Kind nicht für irgendjemanden, sondern nur für Sie drei. Diese Entscheidung sollten Sie auch noch in vielen Jahren verantworten müssen. Daher darf sie nicht überstürzt sein, sondern muss reifen.«
Dieser Satz brannte sich uns ein: »Die Entscheidung muss reifen.« Das war nun wohl die Entscheidung unseres Lebens – die stand vor uns, und sie war unausweichlich. Bis jetzt hatten Tibor und ich unsere Entscheidungen immer wohlüberlegt, sachlich und mit scheinbar leichter Hand getroffen: Ich hatte einen Job in den USA angeboten bekommen? – Klar, Tibor würde mitkommen, und beim nächsten Mal würde ich ihm nachziehen für einen guten Job. Wir waren auf der Suche nach einem Haus in den USA ? – Wir hatten fünfzig Häuser besichtigt, eine Woche lang, zehn jeden Abend. Bei manchen drehten wir schon am Gartentor um, bei manchen reichte ein Blick in den Flur. Bei dem Haus, das wir schließlich genommen hatten, drückten wir schon im Flur die Hände fest ineinander, weil wir wussten, dass es dieses Haus sein würde. Und so war es. Immer wieder trafen wir unsere Entscheidungen zwar nach sorgfältiger Überlegung, aber doch oft so, wie wir aus einem ersten Impuls heraus empfunden hatten – in einer ausgewogenen Mischung aus Bauch und Kopf, und immer in vollstem Einverständnis zwischen Tibor und mir.
Diese Entscheidung lag anders. Hier ging es nicht um ein Haus, sondern um ein Leben. Hier ging es nicht um zwei Jahre, sondern um fünfzig Jahre oder mehr. Hier konnten wir nicht in einem Moment entscheiden. Hier reichte kein Überschlafen. Hier mussten wir zuerst, vor unserer Entscheidung, eine Krankheit erforschen, ein uns noch kaum bekanntes Kind kennenlernen. Hier mussten wir die Abgründe unserer eigenen Persönlichkeiten bereisen, die Reichweite unserer Gedanken, die dunklen wie die hellen Seiten unserer Überzeugungen, die Höhen und die Tiefen unseres Glaubens. Bei diesem ersten Treffen mit unserer neu gewonnenen Psychologin wurde uns klar, dass wir eine lange, mühsame und auch schmerzhafte Entscheidung vor uns hatten. Damals war uns aber noch nicht klar, wie schwer der Weg dorthin tatsächlich war, und wir hatten keine Ahnung davon, dass wir auf dieser Reise viereinhalb Wochen unterwegs sein würden.
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Gewissheit
N achdem wir mit Frau Fricke gesprochen hatten, kamen wir noch einmal zu Professor Chaoui, weil wir uns für eine Punktion entschieden hatten. Wir wollten klären, ob die Schädigung unseres Kindes mit unseren Erbanlagen zusammenhing. Vielleicht wollten wir in unserem tiefsten Inneren damals auch schon wissen, ob wir überhaupt noch Hoffnung auf gesunden Nachwuchs haben durften, wann auch immer er sich einstellen sollte. Vor allem wollten wir aber einfach alles über unsere Erdbeere erfahren, wobei wir uns bei Professor Chaoui gut aufgehoben fühlten. Der Arzt wirkte uns gegenüber freundlich, voller Sympathie, aufgeräumt. Er fragte vorsichtig, wie es uns gehe, und er wies uns darauf hin, dass wir nach der gesetzlichen Lage drei Tage warten müssten, vom Befund bis zu einer eventuellen Abtreibung.
Er sagte »eventuell«, weil er schon wusste, dass wir uns noch nicht entschieden hatten.
»Herr Professor«, fragte ich zuerst, »wie lange wird
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