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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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geweint hatten, begann ein so einfühlsames wie professionelles, ein so freundliches wie mit der nötigen Distanz geführtes Gespräch. Wir erzählten von uns, von unserer Situation, von unseren Ängsten: Wie uns die Diagnose vom siebten Himmel in die tiefste Hölle gestoßen hatte. Wie sich in uns langsam und vorsichtig die entscheidende Frage herausbildete: Ob ich die Schwangerschaft mit einem todgeweihten Baby durchstehen könnte? Ob es Hilfe für das Kind, Hilfe für uns gebe? Ob das Baby nicht doch noch zu retten sei? Ob ich das Kind austragen oder ob ich es abtreiben lassen sollte? Wie wir mit dem Erwartungsdruck unserer Eltern, Freunde, Bekannten umgehen sollten?
    Frau Fricke, so hieß die Beraterin, saß einfach nur da und half uns, unsere chaotisch hin und her springenden Gedanken zu ordnen, Gefühle zu sortieren, Gefühle und Gedanken zu verbinden. Ihre Sätze waren einfach, klar und zielgerichtet: »Wonach ist Ihnen denn jetzt? Hören Sie in sich hinein …«
    Ich stutzte. So hatte ich unsere Situation noch nicht gesehen. In den letzten Stunden zwischen meinen Heulattacken hatte ich mir nur ständig den Kopf zermartert, weil ich eine Antwort auf die Frage suchte, was wir dem Baby schuldig wären. Was wir zu unseren Eltern sagen sollten, zu unseren Freunden. Ob wir unsere Freunde in der Kirchengemeinde mit der Frage nach einer Abtreibung konfrontieren dürften? Ob ich meinen Bruder noch weiter in all das hineinziehen durfte? Wie wir mit den Ärzten umgehen sollten?
    Langsam wurde mir klar, dass ich alle meine Gedanken immer nur auf die anderen konzentriert hatte. Auf Dinge von außen, auf meine Umgebung, auf andere Menschen. Auf alles, nur nicht auf mich.
    »Ganz ehrlich? Ich will mit niemandem sprechen, bis wir uns entschieden haben, wie wir weitermachen wollen.«
    Frau Fricke überlegte keinen Moment. Sie sah uns nur freundlich an.
    »Dann machen Sie das doch so. Ziehen Sie sich einfach zurück. Lassen Sie sich nicht drängen, es gibt keinen Zeitdruck.«
    Das klang leicht, ganz leicht, wäre uns aber auf Anhieb nicht eingefallen. Zumindest hätten wir das in dieser Deutlichkeit nicht zu denken gewagt.
    »Ziehen Sie sich einfach zurück.«
    Wir nickten einander zu, Tibor und ich. Wir wussten in diesem Moment, dass wir das so machen wollen. Wir wollten nicht mit unseren Eltern über eine Sache diskutieren, bei der sie uns ohnehin nicht helfen konnten. Wir wollten nicht den ganzen Tag über die Prenzlauer-Berg-Mamas stolpern, wir wollten von unseren Freunden keine gutgemeinten Ratschläge, keine moralischen Ermahnungen.
    »Als ich Sie beide zum ersten Mal sah«, erzählte mir Frau Fricke viel später, »spürte ich sofort Ihren ethischen Konflikt. Ihre Verzweiflung um die verlorene Gesundheit Ihres gemeinsamen Kindes und gleichzeitig der Wunsch, es retten zu wollen, waren deutlich. Gleichzeitig widersetzte sich etwas in Ihnen Ihrer raumgreifenden Ohnmacht. Sie hielten die Hände vor Ihren Bauch, als wollten Sie ihn vor der Außenwelt beschützen. In jedem Paargespräch rückten Sie die Stühle so, dass Sie Blick- und Körperkontakt zu Ihrem Mann hatten. Es war deutlich, dass Ihr Kind ein Kind großer Liebe war, das sie beide verzweifelt schützen und bewahren wollten. Und mir war klar, dass Sie eine Abtreibung in einen starken Konflikt stürzen würde, von Ihrem Glauben und von Ihrem Selbstverständnis her. Gleichzeitig vermittelten Sie, dass Sie keinesfalls so dogmatisch waren, um eine Schwangerschaftsunterbrechung von Anfang an völlig ausschließen zu können. Sie standen vor einem Prozess, der wohl konfliktreichsten Entscheidung Ihres Lebens.«
    Ich erzählte der Psychologin von meinem Bruder Justus. Ich erzählte ihr, dass meine Mutter in der Pränataldiagnostik ebenfalls schlimme Prognosen zu hören bekommen hatte damals, dass für sie eine Abtreibung aber niemals in Frage gekommen wäre. Ich erzählte ihr auch, dass die Behinderung unseres Babys tausendmal schwerer war als die von Justus – dass die Diagnose für unsere Erdbeere mit dem Leben nicht vereinbar war. Und dass ein Abbruch meiner Schwangerschaft für mich trotzdem ein In-Frage-Stellen von Justus’ Leben einschloss. Womit ich schon wieder andere in unsere eigene Entscheidung einbezog.
    »Sie beide! Sie müssen Ihre Entscheidung treffen!«
    Wie recht die Psychologin hatte! Langsam begann ich mich zu beruhigen.
    »Das ist Ihr Bauch. Das ist Ihr Kind. Das ist Ihr Leben. Das ist Ihre Entscheidung, und die muss authentisch sein.«
    Frau

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