Viereinhalb Wochen
erwarten ist – »Aber warum hacken alle gerade auf diesen Müttern herum?«, fragte der Professor in unsere kleine Runde, »warum hilft niemand den 109000 anderen, die ein kerngesundes Kind erwarten?« – So hatte ich die Sache freilich noch nie gesehen, musste ihm aber bis zu einem gewissen Grad recht geben. Sicherlich ist es etwas anderes, ein gesundes Kind abzutreiben, weil das im Moment nicht in die Lebensplanung passt, als ein krankes Kind, das vielleicht sein Leben lang an einen Rollstuhl gefesselt ist oder mit unsäglichen Schmerzen zu rechnen hat. Für mich steckt zwar in jedem Leben Hoffnung, für mich fängt das Leben zwar schon mit dem Beginn der Schwangerschaft an und endet nicht mit dem Tod, doch ich würde niemals wagen, den Stab über einer Frau zu brechen, die abgetrieben hat, aus welchen Gründen auch immer. Jeder muss wissen, was für ihn das Beste ist und was er vor seinem Gewissen vertreten kann.
Nach diesem heilsamen Ausflug in die Friedrichstraße konzentrierte ich mich wieder auf meinen Alltag, auf mich selbst. Sogar in meinem Glauben kehrte nach und nach wieder Friede ein. Ein neuer Friede. Eine tiefe Beziehung zu Gott, die ich vorher so nie gekannt hatte. Ich weiß wieder, dass wir nie tiefer fallen als in Gottes Hand, auch wenn der Fall von der Diagnose bis zum Begräbnis tief war, sehr tief. Wie oft hatte ich gedacht, wo bleibt denn diese Hand?! Heute weiß ich, dass sie die ganze Zeit da war, und ich entschuldigte mich im Gebet bei Gott für mein Hadern und meine Hartherzigkeit, und es war gut. Ich konnte auch wieder in meinem Tagebuch schreiben:
23 . 2 . 2012
Sechs Monate nach Julius’ Geburtstag. Ich habe diesen Tag mit Heulen begonnen, ich werde ihn mit Heulen beenden, aber ich weiß, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe alles getan. Ich würde alles genauso wieder machen, wenn es noch mal kommt. Ich bin fertig, ich fühle mich erschöpft, aber ich habe Frieden.
Langsam normalisierte sich mein Ausnahmezustand, in dem ich seit fast einem Jahr gelebt hatte, und Tibor ging es ähnlich – wir kamen an in Berlin, wir schlugen langsam Wurzeln: Wir lernten neue Menschen kennen, es kam so etwas wie Routine in unser Leben. Ich hatte langsam wieder Luft zum Atmen.
Obwohl es noch eisig kalt war im Winter – das Thermometer schien lange bei minus fünfzehn Grad eingefroren zu sein – ging ich trotzdem alle zwei Tagen joggen. Noch im Herbst des letzten Jahres hatte ich von einem Halbmarathon geträumt. Das erzählte ich bei der Nachsorgeuntersuchung damals im Oktober dem Arzt, der mich lächelnd ansah und knapp antwortete: »Dann fangen Sie mal an zu trainieren.«
Das tat ich auch, erst insgeheim, um Tibor nicht zu beunruhigen und auch, um nichts absagen zu müssen, falls es nicht klappen sollte. Heimlich stellte ich einen Trainingsplan auf, heimlich schlich ich mich aus der Wohnung, um sonntags, wenn er noch schlief, meine langen Vorbereitungsläufe zu absolvieren – und wenn er meinte, ich sei lange weggeblieben, murmelte ich, dass ich eben langsam gemacht und auch noch eine Runde mehr gedreht hätte.
Zuletzt meldete ich mich heimlich für den Berliner Halbmarathon am 1 . April an. Ich wollte keine bestimmte Zeit laufen, ich wollte niemandem etwas beweisen – außer mir selbst: Dass ich es schaffen würde, im Ziel anzukommen, und zwar nicht im Bus, der die Gescheiterten aufsammelt, sondern auf meinen zwei Beinen. Und genau das schaffte ich auch: Mit schmerzenden Beinen eine Einundzwanzig-Kilometer-Runde durch Berlin zu laufen, mit Dreiundzwanzigtausend anderen Menschen, bis ins Ziel am Alex, wo mich nicht nur ein stolzer Ehemann mit der Kamera einfing, sondern ihm seine überglückliche Frau in die Arme fiel, nach zwei Stunden und dreizehn Minuten – wie ich fand, keine schlechte Zeit für jemanden, der noch wenige Wochen zuvor am Abgrund seiner Existenz gestanden hatte.
Dieser Lauf, dieses Nichtaufgeben, dieses Durchhalten – das war eines von vielen kleinen und großen Geschenken, die Tibor und ich im Laufe der Zeit und am intensivsten durch Julius bekommen hatten. Wir blicken jeden Monat am 23 ., am Geburtstag unseres ersten Sohnes, dankbar zurück. Und wir begannen in jenem Frühling vorsichtig, nach vorn zu schauen.
In unserem Freundeskreis gab es wieder Schwangere. Es fiel so schwer, mit ihnen fröhlich zu sein. Es war so ein Stich ins Herz, jedes Mal wieder – egal, ob ich einen fremden Bauch sah oder den einer Freundin. Und wir? Sollten wir wieder
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