Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
vollständige,
mit mächtigen Türmen bewehrte Ringmauer umgibt die Altstadt, in der eines der
größten Gebäude das ehemalige Arsenal ist; heute ein Museum. Auch der tiefe
Quellbrunnen Fontaine militaire diente der Versorgung im Verteidigungsfall.
Es ist noch früh am Nachmittag. Die
Herberge, die sich im Arsenal befindet, wird noch renoviert, sie ist
geschlossen. Ich will den Pfarrer nicht bei seinem Mittagsschlaf stören, so
verbringe ich die Mittagszeit in einer Bar. Ich bin der einzige Gast. Die junge
Wirtin hat eine besondere Fertigkeit: Sie kann Kaffee kochen und Geld
kassieren, ohne daß sie ihren Blick auch nur eine Sekunde lang von dem
laufenden Fernseher wenden würde.
Später klingele ich bei dem Herrn
Pfarrer. Ein kleiner hagerer Herr öffnet die Tür und hört mir zu, wie ich
meinen Vers vorsage. Ohne eine besondere Geste der Freundlichkeit bittet er
mich in die Wohnung und zeigt mir ein schönes, geräumiges Zimmer, wo ich schlafen
kann. Mit derselben distanzierten Stimme fragt er mich, ob ich schon gegessen
habe. Erst denke ich, er will mir ein Lokal empfehlen, aber als ich sage, daß
ich noch nicht gegessen habe, bittet er mich in das Eßzimmer und stellt ein
fürstliches Mahl auf den Tisch: Würstchen mit Paprikagemüse, Pastete, Salat,
Obst und eine Flasche gute Jurançon. Dann entschuldigt er sich — er muß in die
Kirche — und läßt mich allein. Träume ich denn?
Später bitten auch drei Schweizer Damen
um Einlaß. Auch sie bekommen ein Zimmer. Danach werden wir von unserem
Gastgeber gefragt, ob wir das Abendessen mit ihm teilen würden. Nur Brot und
Wein sollten wir besorgen, sonst hat er alles, wie er sagt.
Es gibt Rindfleisch mit Reis und Salat,
Käse, Obst und Wein. Ich werde von dem Hausherrn gefragt, aus welchem Grund ich
nach Santiago de Compostela laufe und ich antworte, daß ich diese Pilgerreise
aus Dankbarkeit für die wundersame Heilung meiner Frau unternehme. Daraufhin
möchte er die Geschichte ganz genau erzählt bekommen, was ich mit Hilfe der
sprachkundigen Damen dann auch versuche, obwohl die Erinnerung mir Tränen in
die Augen treibt. Als ich mit meiner Erzählung zu Ende komme und meine Augen
getrocknet habe, sagt er, daß er schon in dem ersten Augenblick, als er mich
heute Nachmittag erblickte, wußte: „Hier kommt ein echter Pilger mit einem
ernsthaften Anliegen“.
Ich bin gerührt und habe keine
Schwierigkeiten, es zu zeigen. Er möchte, daß ich meine Frau von seinem Telefon
jetzt anrufe, aber das ist leider nicht möglich: Rita ist zu einem Lehrgang
nach Verona gefahren und ich kann sie dort nicht erreichen.
Bevor wir uns zum Schlafen begeben,
äußert unser Gastgeber die Bitte, von einer Bezahlung, in welcher Form auch
immer, abzusehen. „Das ist mein Dienst an den Pilgern“. Er trägt eine Widmung
in meinen Pilgerbrief ein und ich schreibe in sein Gästebuch:
„ Vielen herzlichen Dank für den lieben Empfang und Bewirtung des müden
Pilgers. Ich danke Gott, mich in dieses freundlichen Haus geführt zu haben
Samstag, am 7. Juni
Von Navarrenx nach Aroue
Weil es gestern am Nachmittagso irrsinnig heiß gewesen ist, stehe ich um fünf Uhr auf,
um in den kühlen Morgenstunden möglichst weit zu kommen. Die Kühle ist relativ:
Kurz nach sechs Uhr, als ich loslaufe, ist es schon über +20 °C. Der Himmel ist
mit phantastischen Wolkenbildern verziert, ich kann mich kaum sattsehen. Schon
für dieses himmlische Schauspiel in dem flach einfallenden Morgenlicht hat sich
das frühes Aufstehen gelohnt.
Die dreibögige Steinbrücke, auf der ich
den Fluß Gave d’Oloron überquere, wurde vor siebenhundert Jahren erbaut. Sie
trägt heute noch den gesamten Straßenverkehr über den Fluß.
Jetzt bin ich in Navarra. Die
historische Landschaft östlich und westlich der Pyrenäen hat bei den Pilgern
des Mittelalters keinen guten Ruf genossen. Der schon zitierte Codex Calixtinus aus dem 12.
Jahrhundert lobt zwar das reiche Land, aber läßt auf dem Kopf der Navarreser
kein gutes Haar wachsen: „Navarrus
bedeutet non verus (nicht wahr)“ ... „Sie sind schlecht gekleidet und sie essen
und trinken schlecht“ ... „Wenn man sie essen sieht, glaubt man fressende Hunde
oder Schweine vor sich zu haben. Wenn man sie reden hört, erinnert es an
Hundegebell“. ... „Die Navarresen pflegen mit ihrem Vieh Unzucht zu
treiben“.... „Für eine Münze tötet ein Navarrese oder Baske, wenn er kann,
einen Franzosen“.
Diese letzte Bemerkung läßt die
Vermutung zu,
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