Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Ellwangen bis Schwabsberg, wo ich
schlafen möchte, ist es nur noch ein angenehmer Spaziergang an der Jagst
entlang. Im Gasthaus »Zum Goldenen Lamm“ wurde das Lamm wahrscheinlich von dem
gepfefferten Zimmerpreis vergoldet, aber das Zimmer ist mit Bad, so daß ich
wieder mal große Wäsche machen kann. Jetzt hängt mein Zimmer voll mit
trocknenden Wäschestücken und es duftet wie in der Waschküche.
Sonntag, am 9. März
Von Schwabsberg nach Aalen
Endlich wieder ein Sonntag,der seinen Namen zu Recht trägt: Es ist sonnig und warm.
Das Frühstück im Gasthaus ist außergewöhnlich gut, und als die Wirtsleute
erfahren, daß ich ein Jakobspilger bin, bekomme ich fünf Mark Nachlaß auf den
Zimmerpreis, als „Pilgerrabatt“. Nach einer halben Stunde bin ich an der
ehemaligen römischen Befestigungslinie, dem Limes. Am Waldrand sind einige
Fundamente von einem steinernen Wachturm ausgegraben worden. Daneben hat man
einen Wachturm aus Holz sowie Palisaden rekonstruiert. Ein ruhiger Ort ist das
hier, weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ich setze mich auf eine Mauer
und lasse die alten Römer vor meinem geistigen Auge tun, was damals auf einem
solchen vorgeschobenen Posten so anstand. Viel war es wahrscheinlich nicht, was
die Soldaten hier verrichten mußten, und das macht die Vorstellung für mich
wesentlich sympathischer, als wenn sie ständig gekämpft hätten.
Ich laufe auf dem Limes weiter. Es ist
merkwürdig und faszinierend, daß auch dort, wo von dieser alten Befestigung
nichts mehr zu sehen ist, der Grenzcharakter bis heute erhaltengeblieben ist,
d. h. dort, wo vor fast zweitausend Jahren diese Linie eine Grenze bildete, ist
auch heute noch eine Flurgrenze, ein Waldrand, eine Hecke zwischen zwei
Ackerfeldern.
Hinter Treppach steigt ein Feldweg in
die Höhe, und als ich diesen Weg einschlage, höre ich schon aus einer
Entfernung von einem halben Kilometer, daß oben Discomusik gespielt wird.
Besonders die fetzigen Baßtöne dröhnen mit Elementargewalt hinunter bis ins
Tal. Was ist denn da los? Gibt es dort etwa ein Volksfest oder ein
Freilichtkonzert?
Nichts davon! Zwei Jungs lassen einen
laut knatternden Lenkdrachen steigen, und damit es ihnen nicht zu langweilig
wird, kippen sie zusätzlich Techno aus dem Autoradio über die Landschaft. Der
alte Audi mit den weit geöffneten Türen wird von den mehrtausend Watt fast
zerfetzt.
Drachen! Was war das eine Freude,
Drachen steigen zu lassen! Schon das Bauen, — wir haben damals die Drachen
selbstverständlich selbst gebaut — , war ein Abenteuer und eine wahre Kunst.
Und weil auch Künstler sich irren können, stand vor dem Start immer die
spannende Frage: Fliegt das Ding überhaupt? Wenn es flog, dann kamen erst die
Experimente, um ihm ein ruhiges, majestätisches Fliegen beizubringen. Manchmal
brauchten wir nur zwei - drei dünne Papierschleifen zusätzlich an das
Schwanzende des Drachens zu binden, und die lahme Ente verwandelte sich
augenblicklich in einen Albatros. Wie die lange bogenförmige Schnur leise zu
brummen und zu singen begann, wenn der Wind stärker wurde! Wenn der Wind aber
ruhig und gleichmäßig war, konnten wir die Schnur irgendwo festbinden, uns ins
Gras legen und stundenlang zuschauen, wie der Drache ohne unser Zutun
eigenständig flog, als ob er lebte. Wenn ich den Drachen und die über ihm auf
ihren Himmelsbahnen ziehenden Wolken lange genug anstarrte, hatte ich das
Gefühl, daß der bunte Papiervogel auf mystische Weise den Wolken entgegen fliegt.
Nach diesen Erinnerungen brauche ich
nicht zu betonen, daß ich kein Fan von Lenkdrachen bin. Die sind für mich gar
keine Drachen, sondern windgetriebene Kampfmaschinen. Schon das Geräusch finde
ich furchtbar, nur störend. Die Hektik, die die herumrasenden Vögel vermitteln,
ist für mich schrecklich. Schließlich können sie auch nicht mehr als Kreis,
Welle oder eine Acht zu fliegen. Das ist nach zehn Minuten langweilig, ohne die
beschauliche Ruhe der Papierdrachen. Das ist wahrscheinlich die Erklärung dafür,
warum zu diesem Windgeknatter als Beigabe auch noch Technomusic benötigt wird.
Wenn ich schon bei Techno bin... Ich möchte nicht darüber sinnieren, welche Art
von Musik wertvoller ist. Techno ist nun mal ein Teil unserer heutigen Kultur,
wie zu seiner Zeit Schubert oder Armstrong. Ich möchte, was ich jetzt sagen
will, auch nicht speziell auf diesen Stil beschränken. Heute Techno, morgen
kommt sicher etwas anderes. Aber wenn heute etwas in Mode kommt, dann wird
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