Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
unabhängig
davon, ob ich sie täglich konsumiere oder nicht.
Am Nachmittag schlafe ich ein bißchen,
dann hole ich Rita am Bahnhof ab. Ich bin glücklich, sie wieder zu sehen.
Am Abend besuchen wir das alte
traditionsreiche Gasthaus „Herrenkeller“, wo schon im 14. Jahrhundert Bier
gebraut wurde. In einem solchen Haus muß man etwas Bodenständiges essen, so wie
wir es tun: Tellersülze mit Bratkartoffeln, und dazu ein gutes Bier. Rita und
ich haben uns lange nicht gesehen, und auch wenn wir fast täglich telefonisch
miteinander gesprochen haben, dies kann die persönliche Anwesenheit, das
Anschauen und Berühren nicht ersetzen. Die Themen, die wir uns gegenseitig
unbedingt erzählen wollen, sind in den Wochen angestaut worden, und jetzt ist
der Damm gebrochen: Wir erzählen und erzählen und können damit kaum aufhören.
Es ist ein schöner und langer Abend.
Frei tag, am 14. März
Von Ulm nach Laupheim
In den frühen Morgenstunden verlassen wir die Stadt Ulm. Nach den zwei Ruhetagen verspüre
ich große Lust weiterzulaufen. Allmählich bekomme ich ein inneres Bedürfnis,
täglich vorwärts zu kommen.
Die Luft ist kühl, aber der Himmel
lacht. Der gekennzeichnete Wanderweg, den wir benutzen, folgt dem Flußlauf die
Donau, der sich hier mit dem Platz, der zwischen den hohen Dämmen übrig bleibt,
begnügen muß. Wir kommen auf der Deichkrone gut voran, links der Fluß, rechts
die feuchten Auwiesen.
Nach etwa drei Stunden verlassen wir
das Ufer und streben auf schmalen asphaltierten Wirtschaftswegen nach Süden.
Der am Morgen noch klare Himmel wird am Vormittag immer sahniger, die Sonne
immer größer und blasser. Man könnte frei nach Villon sagen: Sie hängt wie ein
fetter Hintern am Himmel. Es wird merklich kälter. Am Nachmittag ist dann alles
grau, eine graue Landschaft unter grauem Firmament. Von dieser unerfreulichen
Weiterentwicklung läßt sich der Frühling nicht aufhalten. Auf dem flachen Land
südlich von Ulm ist die Natur wesentlich weiter als in der hohen Schwäbischen
Alb. Die Bäume und Sträucher zeigen das erste Grün, an der Deichböschung haben
wir die ersten Veilchen gesehen und bei Achstetten stolziert schon ein einsamer
Storch auf der feuchten Wiese.
Wir erreichen Laupheim, unser
Tagesziel. Das Gasthaus, in dem wir schlafen, steht unter Denkmalschutz, weil
der Bau früher als Rabinat diente. Auf dem Grundstück daneben, wo jetzt ein
Einfamilienhaus steht, stand früher die Synagoge. Ist es verwunderlich, wenn
mich in diesem Haus die Geister der Vergangenheit auf Schritt und Tritt
begleiten und ich mich dabei nicht ganz frei und unbeschwert fühle? Rita hat
sich heute tapfer geschlagen. Mit ihrem viel zu schweren Rucksack 24 Kilometer
zu laufen, und das am ersten Tag ohne große Übung, ist eine stolze Leistung.
Samstag, am 15. März
Von Laupheim nach Biberach an der Riß
Nachts hat es kräftig
geregnet. Jetzt in der Frühe ist es stark bewölkt, naßkalt, und ein kräftiger
Südwestwind bläst uns entgegen.
Nach Mietingen geht es bald in einen
Wald hinein. Auch hier haben die Stürme der letzten Wochen großen Schaden
angerichtet, ganze Flächen aus dem Hochwald einfach umgeblasen. Erstaunlich,
daß viele der Schadensstellen bereits aufgeräumt sind, an anderen Ecken sind
Forstarbeiter dabei, die umgelegten Stämme herauszurücken, abzulängen,
aufzuschichten. Etwas weiter werden in dem zurückgebliebenen chaotischen
Gestrüpp sogar schon neue Setzlinge gepflanzt. In dem kleinen Dorf Sulmingen
steht eine einfache, etwas unbeholfen wirkende Statue, ein Denkmal für einen gewissen
Ulrich Schmid. Er soll während des Bauernaufstandes im 16. Jahrhundert das Volk
aus der Umgebung gegen die Obrigkeit in den Kampf geführt haben. Aber
Herrschaften, wo sind wir denn eigentlich? Doch nicht etwa in der alten DDR?
Der Mann war doch ein Kommunist!?
In Mettenberg machen wir in dem
Dorfgasthaus Mittagspause. Außer Uns sitzen sechs-sieben einheimische Männer in
der Gaststube, die in dieser relativ frühen Nachmittagsstunde schon
sturzbetrunken sind.
Wie es aussieht, wird der heutige
Frühschoppen in einen Dämmerschoppen münden. Was sie miteinander reden,
verstehe ich nicht. Das kann sowohl mit dem Alkohol als auch mit dem hiesigen
Dialekt zusammenhängen.
Unser Hotel in Biberach an der Riß, der
„Grüne Baum“, ist ein Traditionsgasthaus mit Brauerei. Das Essen ist deftig,
schmackhaft und preiswert. Wir essen einen Schlachteteller mit lauter kräftigen
Sachen, serviert
Weitere Kostenlose Bücher