Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
es
rund um die Uhr und rund um den Erdball gespielt.
Was sage ich? Gespielt? Mir fällt dabei
der alte einfältige Witz ein: „Darf ich fragen, welches Instrument Ihre sehr
verehrte Gattin spielt?“ „Sie spielt sehr schön Grammophon.“ Genau. Wer spielt
noch Musik? Wer singt noch ein Lied? Marusha begleitet mich von Kassel nach Aalen, und wenn ich nach Wladiwostok laufen
würde, sie würde mich auch dorthin verfolgen. Wir regen uns über geklonte
Schafe und Rinder auf, und dabei werden wir, die Menschen, kulturell schon
lange geklont. So. Dieses Nörgeln hat mir Spaß gemacht. Jetzt kann ich
weiterlaufen.
Die Jugendherberge in Aalen ist
tatsächlich das Letzte, was man für viel Geld feilbieten kann. Ich, wieder der
einzige Gast, bekomme ein Sechsbettzimmer. Der Raum ist 3x5,5 m, möbliert mit
drei Etagenbetten und mit einem offenem Regal, das sechs Fächer aufweist. Das
ist alles. Einen kleinen Tisch muß ich von einem anderen Zimmer holen, einen
Stuhl finde ich auch dort nicht. Kein Waschbecken, kein Zimmerschlüssel,
nichts. Dafür verlangt man 30,50 DM. Wenn das Zimmer im Sommer voll belegt ist,
dann bringen diese 16,5 m 2 183 Mark pro Nacht. Und das soll
besonders preiswert sein? Unglaublich!
Montag, am 10. März
Von Aalen nach Altheim
Ob meine gestrige Kritiksträhne schon ein Vorzeichen für die Nacht gewesen ist? Schlecht
geschlafen, schlecht geträumt, bestialische Kopfschmerzen quälen mich, am
liebsten würde ich mich irgendwo hinlegen, die Augen schließen und warten, bis
die Zeit und damit die Schmerzen vergehen. Trotzdem muß ich weiter, weil ich in
drei Tagen mit meiner Frau Rita in Ulm verabredet bin, von dort möchte sie
einige Tage mit mir laufen. Bis Ulm sind es fast siebzig Kilometer.
Als erstes lasse ich in der Stadt neue
Absätze auf meine Schuhe machen, da sie vollständig abgelaufen sind. Dann
schicke ich wieder einige Sachen, die ich nicht mehr benötige, wie Prospekte
und Karten, nach Hause. Beim Hin- und Herpacken im Postamt lasse ich meinen
Fotoapparat fallen. Es ist ein sehr kompliziertes, computergesteuertes
Hitech-Produkt, das durch diesen Schlag nicht mehr wie gewohnt funktioniert.
Ich nehme den Film heraus. Nach einigem Rütteln und Schütteln funktioniert das
Ding wieder, dann wieder nicht. Es hat wohl einen Wackelkontakt bekommen. Ich
könnte heulen!
Das Heulen würde auch nicht helfen, ich
muß weiter. Auf Straßen, die durch langweilige Neubaugebiete fuhren, verlasse
ich die Stadt. Im nahen Unterkochen steht eine schöne Barockkirche auf einem
Hügel. Eigentlich müßte ich sie besichtigen, aber mir ist elend zumute, und so
möchte ich keinen Schritt mehr machen als unbedingt nötig.
In Oberkochen verlassen mich auch meine
letzten Kräfte. Der Kopf will zerspringen, mir ist schwindlig, ich kann nicht
mehr. So kaufe ich mir eine Fahrkarte und fahre die zehn Kilometer mit dem Zug
nach Heidenheim, wohin ich heute laufen wollte.
In Heidenheim angekommen, sind die
Schmerzen wie weggeblasen. Das Wetter ist angenehm warm, die Sonne lacht vom
Himmel. Ich mache mir Vorwürfe, so schnell aufgegeben und die Bahn benutzt zu
haben. Um diesen Fehler wieder gutzumachen, will ich heute doch noch
weiterlaufen, möglichst viel, möglichst weit. Vielleicht will ich mich für
meine Schwäche bestrafen?
Die ersten Kilometern sind noch im
Stadtgebiet, starkbefahrene Ausfallstraße, ätzend. Dann geht es in den Wald
hinein auf einen Berg hoch, der bezeichenderweise Hochberg heißt. Oben wird das
Gelände überraschend flach, eine Hochebene, 650 Meter über dem Meeresspiegel
gelegen, die südliche Schwäbische Alb. Der bezeichnete Wanderweg ist ein schmaler,
sehr einsamer Fußpfad, der sich durch Knüppelholzwälder nach Südwesten
schlängelt. Am Wegrand stehen neue Frühlingsboten: kleine, blaue Leberblümchen
in großer Anzahl. Nun wechseln sich die Wälder mit ausgedehnten Ackerflächen
ab. Das Land ist dünn besiedelt, nur zwei Gutshöfe in drei Stunden, die ich zu
sehen bekomme.
Ab Gerstetten benutze ich eine
Landstraße mit viel Verkehr. Es ist ein Weg zum Weiterkommen, ein Genuß ist das
nicht. Altheim, mein Tagesziel liegt hoch auf einer Erhebung, so muß ich zum
guten Schluß etwa eine halbe Stunde in einem Wald auf einem steilen Pfad nach
oben steigen. Es ist schon dunkel. Nach dem bösen Vormittag geht es mir jetzt
am Abend ausgezeichnet, so ist dann auch diese letzte Hürde bewältigt.
Zum Abendessen probiere ich die
schwäbische Spezialität „Linsen und Spätzle
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