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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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sitzen wir auf der Bank in der
Sonne, und wir sind uns schnell darüber einig, daß das Wichtigste im Leben ist,
damit zufrieden zu sein, was man tut und was man hat.
    Die Altstadt von Bad Waldsee liegt
dicht gedrängt zwischen zwei Seen. Viele edle Fachwerkbauten, das Rathaus, der
alte Kornspeicher und die Türme der St.-Petrus-Kirche bestimmen das malerische
Stadtbild. Diese Barockkirche hat eine Besonderheit, die ich noch bei keiner
anderen Kirche gesehen habe: Die zwei Türme stehen nicht in der Fassadenflucht,
sondern sind um 45o verdreht, über Eck gestellt. Die dynamische Wirkung, die
barocke Linien mit sich bringen, wird mit dieser Maßnahme positiv verstärkt.
Mich wundert, warum dieser Kunstgriff nicht öfters angewendet wurde.
    Das von mir bestellte Zimmer erweist
sich als Flop. Die kleine Kammer, die eine alte, etwas wunderliche Dame
vermietet, ist ein kleines, mit alten halbzerschlissenen Möbelstücken
vollgestopftes Loch in ihrer eigenen Wohnung. Kein Waschbecken, ich darf nur
die Toilette benutzen, nicht aber die Dusche. Sie steht im Telefonbuch unter
„Zimmervermietung“. Aber was soll’s? Ich bin müde und bleibe.

Dienstag, am 18. März
Von Bad Waldsee nach Ravensburg
    Das Frühstück ist wiedas Zimmer: Der dünne Kaffee ist lauwarm, der Rest auch zum
Vergessen.
    Die alte Dame erinnert mich an meine
Mutter in ihren späten Jahren. Auch sie lebte allein in ihrer Budapester
Wohnung, in der sie gern zahlende Gäste für ein paar Mark bewirtete. Sie war
schon achtzig und aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr in der Lage, diese
Tätigkeit auszuüben. Dort wurde wie hier Service und Sauberkeit durch
„Familienanschluß“ ersetzt. Das Frühstück wird mir im Wohnzimmer auf einem
niedrigen Couchtisch serviert. Ich sitze auf einem Plüschsofa und höre zu, wie
die Dame mir über ihre Kinder und Enkel erzählt. Über ihr hängt das Bild eines
im zweiten Weltkrieg gefallenen Ehemannes an der Wand, das Foto von einem
jungen Mann in fescher Fliegeruniform mit Silberkordel. Diese auf dem Bild
sichtbare Schnur ist auch real zu besichtigen, sie ist, etwas verstaubt, neben
dem Bild an der Wand angenagelt. Ziemlich wenig, was von einem Menschen
manchmal übrig bleibt, und dieses bißchen muß oft, wie in diesem Fall für die
alte Dame, für ein ganzes langes Leben reichen.
    Das Laufen macht mir wieder richtig
Spaß. Meine gestern noch schmerzende Sehne hat sich erholt und auch das Wetter
ist zum Jubeln.
    Zwischen Bad Waldsee und Weingarten
breitet sich ein weites Waldgebiet, der Altdorfer Wald aus. Anscheinend regnet
es hier ziemlich viel, und weil das Wasser auf diesem flachen Terrain nur
langsam den Weg zu den benachbarten Wasserläufen findet, sind große Gebiete
versumpft, was dem Wald ein merkwürdiges, märchenhaftes Aussehen verleiht. Die
Bäume stehen an vielen Stellen direkt im Wasser. Die unzähligen kleinen Tümpel
und die zahlreichen Waldseen sind durch Bäche und kleine Rinnsale miteinander
verbunden, überall plätschert und glitzert es, als ob diese Wasserkünste der
Natur künstlich angelegt wären, um den Wanderer zu entzücken.
    Weiter im Wald erreiche ich bald das
Dorf Baindt. Vor dem modernen Rathaus setze ich mich auf eine Bank, um mich ein
wenig auszuruhen. Schulkinder, eben mit dem Schulbus angekommen und auf dem Weg
nach Hause, beäugen mich. Ein Junge bleibt vor mir stehn, dann ein zweiter, und
bald bin ich von etwa einem Dutzend Kindern von etwa acht bis zwölf Jahren
umringt.
    „Bist Du ein Bergsteiger?“ fragt einer,
auf meine Teleskopstöcke deutend.
    „Nein, ich bin ein Wandersmann“.
    „Wo kommst Du her?“
    „Aus Kassel“.
    „Ich war schon in Kassel“, sagt ein
Mädchen, „das ist aber sehr weit! Bist Du alles gelaufen?“
    „Ja.“
    „Ohne zu schlafen?“ fragt ein anderes
Kind.
    „Nein, das geht doch nicht! Ich schlafe
in Gasthäusern.“
    „Das ist aber sehr teuer! Bist Du
reich? Brauchst Du nicht zu arbeiten?“
    „Nein, reich bin ich nicht, aber ich
habe in meinem ganzen Leben gearbeitet und jetzt bekomme ich Rente, wie euer
Opa. Der arbeitet auch nicht mehr, trotzdem hat er immer Geld, stimmt’s?“
    „Ja, stimmt. Und wie weit willst Du
noch laufen?“
    „Bis nach Spanien.“
    „Nach Spanien?? Wie lange soll das denn
dauern?“
    „Das wird schon Sommer werden, bis ich
ankomme“, sage ich etwas nachdenklich.
    „Und wozu machst Du das alles?“ fragt
ein Junge, und ich denke, genau das ist die Frage der Fragen. Was soll ich
darauf antworten? Aber bevor

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