Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
ich dazu komme, antwortet ein anderer kleiner
Junge für mich:
„Wandern macht Spaß!“
Eine sehr vereinfachende Antwort, aber
ich will sie gelten lassen.
Die Basilika von Weingarten steht
weithin sichtbar über der Stadt auf einem Hügel. Die Türme, die sich
bogenförmig herauswölbende Fassade und die große Kuppel verkünden die
Herrlichkeit der Barockzeit über das Land. In Wahrheit war diese Zeit der Blüte
aber von kurzer Dauer. Die im Jahr 1724 eingeweihte Kirche und die sie
umgebende riesige Klosteranlage waren bereits achtundsiebzig Jahre später
säkularisiert worden, das Kloster benutzte man als Kaserne. Heute dienen die
Bauten als Schuleinrichtungen. Die Basilika ist herrlich restauriert. Trotz
seiner Monumentalität ist dieses Gotteshaus in der südlichen leichteren,
fröhlichen Spielart des Barocks mir viel näher als beispielsweise der Dom zu
Fulda.
Keine Stunde brauche ich, um nach
Ravensburg zu kommen. Im Mittelalter ist die ganze Stadt mit einer dicken
Stadtmauer umgeben gewesen. Heute sind nur noch die ehemaligen Stadttore
übriggeblieben, die, jetzt in der Stadtmitte stehend, ein altehrwürdiges,
romantisches Stadtbild vermitteln. Es sind allerdings nicht nur die Tore,
sondern auch die vielen alten öffentlichen Bauten, die vom ehemaligen Reichtum
der Stadt künden.
Hoch über der Stadt auf einem steilen
Bergsporn ragte im Mittelalter die die Gegend beherrschende Ravensburg, die
Geburtsstätte von Heinrich dem Löwen. Von der alten Burg ist heute nichts mehr
zu sehen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden die damals noch vorhandenen Reste
nach dem Geschmack der Zeit romantisch renoviert. Hier ist die Jugendherberge
untergebracht, in der ich heute schlafen möchte.
Da ich zu früh bin, setze ich mich auf
eine Bank und warte, daß die Herberge geöffnet wird. Ein Mann in meinem Alter
kommt vorbei. Als er mein Gepäck sieht, bleibt er stehen und fragt, wie weit
ich laufen möchte?
„Ziemlich weit“, sage ich.
„Vielleicht nach Spanien?“ fragt er,
und als ich verblüfft nicke, geht er zwei Schritte nach vorn und streckt mir
seine Hände entgegen. Ein Mitbruder! Er hat schon mehrere Teilstrecken
erwandert, so auch die von hier nach Einsiedeln, und er erzählt mit voller
Begeisterung über seine Erlebnisse, die er unterwegs gehabt hat. Leider wurde
er im letzten Jahr am Herzen operiert und so kann er keinen langen Touren mehr
machen, was er sehr bedauert, und er beneidet mich. Er verabschiedet sich ganz
herzlich und wünscht mir alles Gute auf meinem langen Weg.
Die Herberge ist ziemlich stark belegt.
Zum ersten Male auf meiner Reise bekomme ich kein eigenes Zimmer, ich soll mit
zwei anderen Herrschaften in einem Raum schlafen. Ich bin zu müde, mir etwas
anderes zu suchen, also bleibe ich. Mal sehen, ob ich mit anderen in einem Raum
schlafen kann?
Mittwoch, am 19. März
Von Ravensburg nach Markdorf
Ich habe ausgezeichnetgeschlafen. Es geht also auch mit anderen Mitschläfern in
demselben Zimmer! Meine zwei Mitbewohner sind recht wortkarg. Ich versuche ein
Gespräch anzufangen, aber ohne Ergebnis. Der eine ist ein junger Mann, der
andere um Mitte fünfzig, Typ verschrobener Professor. Da er kein Wort sagt,
denke ich, er spricht kein Deutsch. Daher bin ich überrascht, als er mich beim
Frühstück fragt, wo ich mit meinem großen Rucksack hinmöchte? Ich sage, daß ich
ein Jakobspilger bin.
„Ein richtiger? Laufen Sie den ganzen
Weg nach Santiago de Compostela zu Fuß?“ Er erweist sich mit dieser Frage als
Fachmann und stellt sich vor als Kunsthistoriker mit dem Spezialgebiet
romanische Baukunst und Ornamente. Auch in dem mittelalterlichen Pilgerwesen
kennt er sich gut aus. Im nächsten Augenblick befinden wir uns in einem tiefen
Gespräch über unser Lieblingsthema und wir merken nicht, daß die anderen Gäste
ihr Frühstück schon längst beendet haben. Schließlich werden wir als letzte
übriggebliebene Gäste aus dem Haus gebeten. Soviel über Wortkargheit.
Als ich von der Burg in die Stadt
hinabsteige, fängt es an zu regnen. Es ist kalt und ich bin zu leicht und
falsch angezogen. Um mich umzuziehen, stelle ich mich unter einen Torbogen. Ein
Mann kommt von der anderen Straßenseite auf mich zu und fragt, woher ich komme
und wohin ich will? Ich erzähle, daß ich ein Pilger bin und daß ich nach
Spanien laufe. Er sagt, auch er sei unterwegs, aber nicht als Pilger, sondern
als Berber, ohne besonderes Ziel, wie es halt so komme. Ich bin überrascht. Er
ist normal
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