Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
einem weichen Konglomerat, in das das Wasser
sich tief einfräst. An manchen Stellen hat die Strömung in den früheren Zeiten,
als sie das noch durfte, einige Felswände freigespült, die heute das Tal sehr
malerisch gestalten. Dort allerdings, wo diese Wände ihre Füße von dem Fluß
waschen lassen, muß mein Pfad den Talboden verlassen und mittels Treppenstufen
vor dem Hindernis steil in die Höhe und danach genau so steil wieder hinunter
ins Tal steigen. Nach einem Dutzend dieser Hüpfer fragt mich mein Knie, wie
lange diese Strapaze noch dauern soll? Das würde ich auch gern wissen.
Nach Entlebuch öffnet sich das Tal
wieder, der Fluß ist von einem schönen, alten Waldstreifen gesäumt. Die Bäume
zeigen eben die ersten zarten grünen Blätter, durch die die Sonne ihr warmes
Licht auf den Waldboden streut. Am Wegrand stehen die Buschwindröschen, die in
manchen Gegenden passenderweise „Weiße Osterblume“ heißen, im voller
Blütenpracht. Ich wandere wie in einem Blumengarten.
Es ist noch früh am Nachmittag, als ich
in Schüpfheim ankomme, aber ich bin müde. So verbringe ich den Rest des Tages
mit Träumen und Faulenzen.
Montag, am 31. März
Von Schüpfheim nach Langnau im Emmental
Die Sonne strahlt
vom wolkenlosen Himmel, würdig zu diesem schönen Ostermontag. Jetzt in der Frühe
ist es noch sehr kalt, die Wiesen sind weiß vom Rauhreif, aber am Tag wird es
sicher wärmer. Ich verspüre die Lust am Laufen, die Lust am Leben.
Der Weg setzt sich fort, wie er gestern
aufgehört hat, im Wald am Flußufer entlang. Nach einer halben Stunde muß ich
mich allerdings entscheiden, ob ich unten im Tal bleibe, wo nur die Landstraße
sich als Möglichkeit anbietet. Eine Alternative ist der rechtsseitige Höhenzug,
der Tällenmoos-Wald, wo weitab vom Verkehr ein Weg durch Wald, Wiesen und an
Einzelhöfen vorbei verläuft. Ich wähle diese Wegvariante.
Den Hang nehme ich leicht, passiere in
guter Laune den Hof Steinwurf und lese auf einem Hinweisschild, daß der nächste
Hof Tällenmoos nur 25 Minuten entfernt ist. Wie schön, denke ich, dazwischen
liegt zwar nach der Karte das Tal des Bocken-Baches, aber wenn ich in 25
Minuten in dem Ort, der an der anderen Talseite liegt, sein werde, ist es
bestimmt kein tiefes Tal.
Der Wiesenweg, auf dem ich laufe, ist
plötzlich zu Ende. Hier steht noch eine Markierung, ein gelber Pfeil, der auf
den etwa fünfzig Meter entfernten Waidrand zeigt. Ich überquere diese Wiese. Am
Waldrand bricht das Gelände in eines dieser schluchtartigen bewaldeten
Bachtäler ab, ohne daß ich dort einen weiterführenden Pfad, eine Spur oder
Wegezeichen entdecken kann. Ich laufe am Waldrand etwas ratlos hin und her,
zurück zu der letzten Markierung, dann wieder zum Waldrand, aber ich finde auf
die Frage, wo der Weg weitergeht, keine Antwort. Nach meiner Wanderkarte muß
ich diese Schlucht rechtwinklig überqueren. Aber wie? Fliegen kann ich ja
nicht! Meine 60.000er Karte ist nicht genügend detailliert dazu, daß ich hier
ohne Wege querfeldein laufen könnte.
Ich schreite den Waldrand schon zum
fünften Mal ab, als ich tief unter mir an einem Baumstamm eines kleinen
Holzschild entdecke. Dies entspricht zwar nicht den bisherigen Zeichen, aber
gleichzeitig mit diesem Hinweis sehe ich einen Hauch von einer Spur, eher eine
Rutsche als einen Pfad, die zu diesem Schild hinunterführt. Also gut, einen
besseren Weg finde ich nicht.
Ich gehe los. Mit dem schweren Rucksack
auf dem steilen Hang ist das Gehen ein Balanceakt. Wieder tun mir die
Wanderstöcke einen unschätzbaren Dienst. Bald finde ich eine der amtlichen
Markierungen, also ist dieses undefinierbare Etwas tatsächlich der gesuchte
Wanderweg.
Etwa auf dem halben Weg nach unten
versperren umgestürzte Bäume den sowieso kaum vorhandenen Pfad. Ungefähr ein
Dutzend vom Wind umgelegte große Bäume bilden mit ihren Stämmen, Ästen und
Wurzelwerk ein kaum überschaubares, verfilztes, chaotisches Hindernis. Ich sehe
aber keine andere Möglichkeit, als mich hier, wie auch immer, durchzukämpfen.
Ich fange an, zwischen den Zweigen durchzuklettern, mich durchzufädeln, was mit
dem Rucksack und mit den Stöcken, die mich jetzt behindern, ein hoffnungsloses
Unterfangen ist. Nach etwa zehn Minuten anstrengender, verzweifelter Bemühungen
muß ich einsehen, daß ich hier nicht durchkomme. Ich bin gefangen, es geht
nicht vor und nicht zurück.
Ich halte inne. Nein, weiter geht es
nicht, aber wenn ich hier hineingekommen bin, muß ich es
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