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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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behalten. Davon zeugen die
vielen Repräsentativbauten, die zwischen 1400 und 1700 erbaut wurden: das
Chateau, die Academia, der Bischofspalast, das Grand Hospital.
    Ich laufe auf einer romantischen
Treppenstraße zum Rathaus hinunter. Auch hier steht ein Justitiabrunnen, die
gleiche Frauengestalt wie in Bern oder in Moudon. Ganz in der Nähe die
Franziskanerkirche, auch ein gotisches Gotteshaus. Seine hölzerne
Dachkonstruktion wurde 1387 fertiggestellt. Sie steht heute noch.
    Ich besorge mir weiterführende
Wanderkarten, Salbe für mein Knie, etwas zum Essen und Trinken, trinke mehrere
Tassen von dem ausgezeichneten Schweizer Kaffee... Es gibt einige gute
Ausstellungen, die ich gern sehen würde, z. B. „Von Greco bis Modigliani“,
Bilder aus schweizerischen Privatsammlungen, aber dann werde ich unruhig und
frage mich, welches Programm für den heutigen Tag eigentlich vorgesehen ist. Bin
ich ein Tourist oder ein Pilger? Wenn ich nämlich als Pilger einen Ruhetag
brauche, dann sollte ich mich ausruhen. Wenn ich aber diese Ruhe nicht
benötige, dann kann ich ja weiterlaufen. Das Wetter ist ausgesprochen
frühlingshaft, und ich habe noch einen sehr langen Weg vor mir. Für mich als
Pilger ist es eine Sünde, an einem so schönen Tag, obwohl ich es könnte, nicht
weiter zu laufen.
    Es ist schon Nachmittag, als ich zur
Herberge zurückfahre, meinen Rucksack packe und mich rasch auf den Weg begebe.
    Gut gepflegte Parkanlagen begleiten den
Kiesstrand des Genfer Sees, wo an diesem milden, sonnigen Nachmittag viele
Radfahrer, Jogger und Spaziergänger mit ihren Hunden die seidige Luft genießen
wollen. In dem ufernahen, seichten Wasser schnattern die Enten und Bläßhühner,
dazwischen ziehen Schwäne ihre ruhigen Bahnen. Ab und zu rennen die
mitgeführten Hunde übermütig ins Wasser, aber die Vögel nehmen von ihnen
erstaunlich wenig Kenntnis. Wahrscheinlich haben sie sich aneinander gewöhnt.
    Bei St.-Sulpice stehe ich plötzlich,
freudig überrascht, vor den halbrunden Apside einer wunderschönen romanischen
Kirche, die ich hier, inmitten in Villen und Wochenendhäusern nicht erwartet
hätte. Ein mächtiger Turm mit Zeltdach erhebt sich über der Vierung. Der
Eingang ist offen, ich betrete den Innenraum. Die Wände und das Turmgewölbe
sind früher reich bemalt gewesen; noch sind gut erkennbare Reste der Bilder
vorhanden, wie der in einer Mandorla thronende Christus, mit den Symbolen der
Evangelisten. Die Einrichtung ist spärlich; um so besser kommt die Wirkung der
Formen und Proportionen des Raumes zur Geltung.
    Ich verlasse das Dämmerlicht der Kirche
und werde draußen von der Lichtflut der Sonne geblendet. So traue ich kaum
meinen Augen, als ich nur fünf Meter vor mir die junge Dame erblicke, die ich
vor vier Tagen, am Freitag, in Tafers in der Kirche getroffen habe. Das kann
doch nicht wahr sein! Solche Zufälle gibt es gar nicht!
    Wir umarmen uns wie alte Bekannte, und
ich würde sie gern noch länger in meinen Armen behalten, wenn neben ihr nicht
eine zweite junge Frau stehen würde, die sie mir als ihre Schwester vorstellt.
Sie wohnt hier in der Nähe. Auch die Schwester begrüßt mich sehr freundlich und
sagt, daß es für sie eine freudige Überraschung ist, mich kennenzulernen, da sie
seit zwei Tagen über die Themen diskutieren, die ich mit ihrer Schwester bei
unserem Treffen in Tafers angesprochen habe: der Weg, das Ziel, das Lieben und
Loslassen, das Suchen und Begegnen. Es überrascht mich, daß die Damen mich
offensichtlich einen Menschen mit besonderen Erkenntnissen und Wahrheiten
betrachten. Ich kann mir dies nur mit einer mir von diesem langen Weg
verliehenen Glaubwürdigkeit erklären.
    Wie für uns eingerichtet, ist neben der
Kirche ein Café mit Sonnenterrasse. Wir lassen uns nieder und freuen uns über
diese neuerliche Begegnung.
    Solche glücklichen Augenblicke gehen
besonders schnell vorbei. Wir verabschieden uns, diesmal wahrscheinlich auf
immer. Zur Umarmung gibt es Wangenküsse: Nicht „zwei wie unter Freunden, nicht
drei wie in Paris, sondern vier wie unter Liebenden“, wie die Franzosen es zu
sagen pflegen.
    Sie steigen ins Auto, ich winke ihnen
nach; dann setze ich meinen Weg am Ufer fort, ohne zurückzuschauen. Jenseits
des von dem leichten Wind gekräuselten großen Wassers sonnen sich die
Bergriesen in dem milchigen Licht des Nachmittags. Ein fernes Segelboot bewegt
sich kaum wahrnehmbar nach Südwesten, wohin auch ich möchte.

Mittwoch, am 9. April
Von Morges nach Nyon
    Ich habe

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