Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
noch nie so intensiv die
Freude über sonnige warme Tage erlebt wie auf dieser Reise. Weiter geht es in
einer ufernahen Parkanlage. Zahlreiche Gartenarbeiter sind dabei, Blumenbeete
anzulegen, Wege zu befestigen, Parkbänke zu reparieren. Es erfordert viel
Arbeit, bis alles dem Schweizer Standard entspricht und so vollkommen
ordentlich aussieht.
Heute scheint der See unendlich groß zu
sein. Die Berge an dem jenseitigen Seeufer, die gestern gerade noch zu sehen
waren, sind im hellen, diesigen Licht entschwunden.
Der Landstrich zwischen St-Prex und
Buchillon ist ein einziges Wohngebiet mit schönen und aufwendig gestalteten
Einfamilienhäusern. Für potentielle Bauherren mögen solche Strecken anregend
sein, für Wanderer sind sie etwas befremdlich. Hinter dem kleinen Winzerdorf
Allaman steht mitten in den weitläufigen Weinfeldern ein imposantes Château,
wie ich es aus Frankreich kenne. Am Straßenrand ist der Löwenzahn schon
verblüht: Fröhlich schwirren die kleinen weißen Fallschirme im hellen
Sonnenlicht.
Der Weg kehrt wieder zum Seeufer
zurück. In einem kleinen Bootshafen lasse ich mich auf einer Bank nieder und
mache Mittagspause. Ein guter Brie mit frischem Brötchen und ein Apfel; ein
karges Mahl, aber es wird von meinem Hunger zum Festschmaus geadelt. Zu meinen
Füßen plätschern die silbrige Wellen an den Kiesstrand. Schnatternde
immerhungrige Enten hoffen, von mir zum Essen eingeladen zu werden; Schwäne
schauen sich die Szene aus vornehmer Entfernung an.
In dem alten Städtchen Nyon habe ich
Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu bekommen. Schließlich hilft mir der Chef
von dem „Hotel d’Ange“; er überläßt mir einen Dachverschlag, der offenbar für
die Unterbringung von Saisonpersonal dient, für eine Nacht.
Im Bett lese ich noch einmal den Brief
Jakobs, von dem ich in Tafers eine Kopie bekommen habe, und merke, daß sein
Verteufeln von alles, was auch nur im weitesten Sinn weltlich oder menschlich
ist, bei mir auf Widerstand stößt. Wie konnte er beispielsweise „irdisch,
menschlich und teuflisch“ (3.16) gleichsetzen? Was soll die Aussage: „...der
Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist“ (4.4) bedeuten? Das ist doch völlig
unlogisch! Wenn ich annehme, daß Gott uns Menschen, wie von der Kirche gelehrt
wird, nach seinem Antlitz erschaffen hat, dann kann „menschlich“, also
„gottähnlich“, nicht teuflisch sein!
Donnerstag, am 10. April
Von Nyon nach Mies
Das Wetter wird jeden Tag besser, heute ist es wohl das beste seit Kassel: nicht nur
wolkenlos, sondern schon in der Frühe angenehm warm.
Der weitere Verlauf des markierten Wanderweges
wählt nicht die kürzeste der möglichen Strecken, er schlängelt sich auf einem
niedrigen Höhenzug nach Süden. Auf manchen Wiesen wird das Gras in diesem Jahr
zum ersten Mal gemäht. Die Luft ist vom würzigen Duft des frischgeschnittenen
Heus gesättigt.
Die kleinen Dörfer, die ich passiere,
sind durchweg sehenswert, auch wenn sie in keiner Reiselektüre zu finden sind.
Meistens haben sie einige große herrschaftliche Bauernhäuser und eine oft noch
romanische Kirche. So auch Commugny. Der mit einem Satteldach gedeckte Bau mit
dem quadratischen gedrungenen wehrhaften Turm ist in den Jahrhunderten
unverändert geblieben. Das Innere ist schmucklos, aber stilrein: Hier sind die
Reformierten mit ihrer puritanischen Ästhetik zu Hause.
Das Gasthaus in Mies ist einfach und
sauber. Nachdem ich mich geduscht und die tägliche Wäsche erledigt habe, gehe
ich hinaus, den Ort anzuschauen, aber außer einem riesigen Eichenbaum vor dem
Gemeindeamt finde ich nichts Sehenswertes. Ich kaufe mir in einem Laden ein
wenig Käse, Brot und Obst. Ich lebe seit Wochen praktisch nur aus der
Einkaufstüte. Bei den hiesigen Preisen muß ich mich täglich entscheiden, ob ich
im Gasthaus essen oder schlafen will; beides kann ich nicht bezahlen. Schlafen
muß ich täglich, und da ich zu Fuß unterwegs bin und nehmen muß, was ich am
Abend vorfinde, habe ich keine Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten. So kann
ich nur am Essen sparen. Der angenehme Nebeneffekt: Ich habe schon sieben Kilo
abgenommen!
F reitag, am 11. April
Von Mies nach Genève
Ich verlasse das Dorf bei strahlendem Sonnenschein. Es ist sehr warm, ich muß mein Gesicht
und die Hände mit Sonnencreme gegen Sonnenbrand schützen. Daß ich das erleben
darf!
Je näher ich an Genf herankomme, desto
dichter ist die Gegend besiedelt; wobei dieser Zustand eigentlich schon
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