Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Gasthaus vor dem Tunnel ist eine Bar. Zimmer haben sie
nie gehabt!
Inzwischen sind einige Kunden in die
Apotheke gekommen. Alle sind bemüht, mein Problem zu lösen, aber hier im Ort
gibt es offensichtlich keine Möglichkeit zu übernachten. Nach einigen
Telefonaten wird aus der Befürchtung Gewißheit: Das nächste Hotel befindet sich
in Bellegarde-sur-Valserine, bis dorthin sind es noch zwölf Kilometer.
Obwohl ich mir geschworen habe, auf
meinem weiteren Weg von allen öffentlichen Verkehrsmitteln Abstand zu nehmen,
ist jetzt der Augenblick gekommen, in dem ich streike. Ich erkundige mich nach
Bus oder Bahn und muß erfahren, daß heute keine Möglichkeit mehr besteht, nach
Bellegarde zu fahren.
Ich fühle mich krank und bin völlig
ratlos. Ich habe schon vor Tagen auf diese Stunde gewartet, in der ich
Frankreich, mein liebstes Urlaubsland, betrete. Ausgerechnet hier muß ich zum
erstenmal auf dieser Reise erleben, daß ich keine Unterkunft bekomme. Die
letzte Möglichkeit, von Bellegarde ein Taxi zu rufen, kann ich mir kaum
leisten.
Meine innere Ratlosigkeit muß sich auch
nach außen abgezeichnet haben: Eine anwesende Kundin, eine junge Dame, bietet
mir spontan an, mich mit ihrem Auto nach Bellegarde zu fahren. Ich nehme es
dankbar an und bin gerührt von ihrer Hilfsbereitschaft. Zwei Frauen und ein
junger Mann, der sogar deutsch sprechen kann, fahren mich nach
Bellegarde-sur-Valserine. Dort erkundigen sie sich bei Freunden, welches
Gasthaus für mich am günstigsten ist und fahren mich bis zur Eingangstür. Beim
Abschied werden alle meine Danksagungen damit beantwortet, daß sie sich freuen,
mir helfen zu können.
Das Zimmer ist sehr einfach. Ich bin
müde und erschöpft und gehe, nach dem ich meine Wäsche gewaschen habe, sofort
schlafen.
Sonntag, am 13. April
Von Bellegarde-sur-Valserine nach Seyssel
Heute habeich
erstmals auf dieser Reise den Morgen verschlafen. Weder das Piepsen meiner
Armbanduhr noch die Geräusche der vor meinem Fenster vorbeifahrenden
Eisenbahnzüge haben vermocht, mich vor zehn Uhr zu wecken. Offensichtlich habe
ich den langen Schlaf nötig gehabt. Dafür fühle ich mich jetzt gut, die Reise
kann fortgesetzt werden.
In Bellegarde wendet sich die Rhône
genau nach Süden, und ich will der folgen. Der Fluß hat sich hier ein tiefes,
schluchtartiges Tal gegraben. Am Wasser entlang gibt es keinen Weg, ich muß die
Landstraße benutzen, die etwa zwei Kilometer westlich und zweihundert Meter
über dem Fluß parallel verläuft. Es ist sommerlich warm. Ich durchlaufe mehrere
kleine stille, etwas verschlafene Dörfer. Sie sind zum Verwechseln ähnlich.
Auch die kleinen Kirchen, deren Baugeschichte meistens in romanische Zeit
zurückreicht, gleichen sich. In dieser Umgebung ist meine fremdartige
Aufmachung auffälliger als in anderen gegenden, wo Wanderer alltäglicher sind.
Ich begegne nur wenigen Menschen, die sich aber freundlich nach meinem Weg
erkundigen:
„Woher kommen Sie?“
„Aus Deutschland. Zu Fuß.“
„Alles zu Fuß???“
„Ja, alles zu Fuß.“
„Kein Anhalter? Richtig zu Fuß?“
„Nein, kein Anhalter, alles zu Fuß.“
„Wieviele Kilometer sind das?“
„So um die elfhundert.“
„Wann sind Sie denn losgelaufen?“
„Im Februar.“
„Und wohin laufen Sie?“
„Nach Spanien, nach Santiago de
Compostela. Ich bin ein Jakobspilger.“
„Nach Spanien?? Wieviel müssen Sie bis
dahin noch laufen?“
„Siebzehn-, vielleicht auch
achtzehnhundert Kilometer.“
„Und wieviel Kilometer laufen Sie am
Tag?“
„Zwanzig, fünfundzwanzig, mal mehr, mal
weniger.“
„Ja, wann wollen Sie denn dort
ankommen?“
„Im Juli, wenn alles gut geht.“
„Gott, das kann doch nicht wahr sein!
Und wenn ich Sie fragen darf: Wie alt sind Sie?“
„Achtundfünfzig.“
Dann werde ich bewundert, alle finden
mich großartig und wünschen mir „bon
courage“. Erstaunlich, welchen Schwung mir so eine Begegnung gibt!
Der Weg kehrt in das Tal zurück und
erreicht das Städtchen Seyssel. Der alte Stadtteil liegt recht malerisch auf
der anderen Seite des Flusses; eine Hängebrücke mit einem triumphbogenartigen
Mittelpfeiler, auf dem eine Marienstatue steht, führt mich hinüber.
Ich suche eine Unterkunft; doch mit den
französischen Hotels scheint es ähnlich bestellt zu sein wie in den bekannten
Witzen mit der guten und schlechten Nachricht. Erst die gute Nachricht: Es gibt
viele Hotels und Gasthäuser. Und dann die schlechte: Sie sind im April
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