Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
alle
geschlossen.
Seyssel hat fünf kleine Hotels, aber an
diesem warmen Frühlingssonntag sind alle fünf dieser Häuser geschlossen. Die
meisten Hoteliers machen im April Betriebsferien.
Ich versuche alles, was mir einfällt:
Ich spreche auf der Straße fremde Menschen an, bitte sie um Rat und Hilfe; ich
gehe in mehrere Bistros, um dort vielleicht jemanden zu finden, der mir, wie
auch immer, helfen könnte... Ich sehe das Zeichen des Bemühens, aber auch die
Hilflosigkeit. Sie berichten über einen Beschluß des Gemeinderates, nach dem
eines der Häuser immer geöffnet sein soll, und sie wundern sich, daß dies nicht
befolgt wird.
Alles das hilft mir aber nicht! Wieder
dieselbe Geschichte wie gestern! Wie soll ich mein Vorhaben weiterführen, wenn
hier überhaupt keine Möglichkeit besteht, für die Nacht ein zu Fuß erreichbares
Bett zu finden?!
Mir fällt die Weihnachtsgeschichte ein.
Seit zweitausend Jahren erbost sich die Menschheit mit Recht über das Los der
Heiligen Familie, die in Bethlehem keine Herberge fand und in einem Stall
übernachten mußte. So können wir indirekt erfahren, daß damals das Übernachten
in einem Stall die schlechteste aller Möglichkeiten gewesen ist.
Die biblische Zeiten sind vorbei.
Damals, als alle noch zu Fuß unterwegs waren, lautete die Lösung dieses
Problems: „Keine Herberge mehr frei? Ab in den Kuhstall!“ Wir mobil gewordenen
Menschen lösen diese Aufgabe anders: „Kein Zimmer zu finden? Weiterfahren, bis
man eins findet!“ Heute müßten Maria und Josef Zusehen, daß sie vielleicht per
Anhalter weiterkommen. Diese Variation der Weihnachtsgeschichte würde viel von
der Romantik unserer Weihnachtszeit nehmen. Josef läßt sich neben der Krippe
kniend besser darstellen als am Straßenrand stehend, den Daumen hochstreckend.
Schließlich bleibt mir nichts anderes
übrig, als mit dem Zug nach Bellegarde zurück zu fahren und in meinem gestrigen
Hotel ein Zimmer zu nehmen.
Montag, am 14. April
Von Seyssel nach Belley
Der Zug bringt mich nach Seyssel, wo ich schon gestern gewesen bin. Ich setze meinen
gestrigen Weg fort.
Herrschaften, ist es wieder ein
wunderbares Wetter! Seit Tagen ist es warm, kein Wölkchen am Himmel; eigentlich
müßte ich vor Glück juchzen. Ausgerechnet heute erlebe ich aber die tiefste
Krise meiner gesamten bisherigen Reise.
Mir geht das gestrige Gespräch nicht
aus dem Sinn. Ich bin bis jetzt etwa elfhundert Kilometer gelaufen, und das
kommt mir so irrsinnig lang vor, daß ich kaum nachvollziehen kann, wie ich es
geschafft habe, so weit zu kommen. Ich stelle mir die Frage, wie es wäre,
dieselbe Strecke zurückzulaufen. Schon der Gedanke läßt mich in Panik
verfallen! Bei aller Liebe und den vielen guten Erfahrungen: Nicht für alle
Schätze dieser Welt würde ich zu Fuß nach Hause laufen wollen! Vorwärts habe
ich aber noch das Anderthalbfache dieser Entfernung zu bewältigen! Wie soll das
gehen?
Mir tut nichts weh, ich bin auch nicht
müde, aber ich fühle mich erschöpft und völlig kraftlos. Nach einer Stunde muß
ich mich hinsetzen. Es ist heiß, ich bin naßgeschwitzt, ausgebrannt.
Diese ganze Lauferei ist irgendwie
sinnlos geworden! Welchen Unterschied macht es noch, ob ich Verkehrsmittel mehr
oder weniger benutze? Wenn es nicht möglich ist oder ich es nicht schaffe, ohne
diese Hilfsmittel wie ein Pilger voranzukommen, dann ist es gleichgültig, ob
ich noch viel laufe oder wenig! Ich könnte beispielsweise jetzt den Zug nehmen.
Warum nicht? Wenn ich mich vorgestern kutschieren ließ und gestern den Zug
nahm, könnte ich es auch heute tun.
Der Gedanke, daß ich heute abend wieder
Schwierigkeiten haben könnte, ein Zimmer zu bekommen, macht mich schon jetzt
krank.
Nach einer halben Stunde zwinge ich
mich weiter zu laufen. Hinter Culoz wird die Landstraße breiter, der Verkehr
stärker. Ich bin froh, als ich nach fünf Kilometern den Wanderweg GR9 antreffe
und die asphaltierte Straße, übrigens erste Mal seit Genf, verlassen kann. Die
Freude währt nicht lange: Es ist ein grobgeschotterter Weg, schlecht zu laufen,
schnurgerade, schattenlos. Auf der linken Seite des Weges fließt nicht etwa die
Rhône, wie die Karte es vermuten läßt, sondern ein etwa vier Meter breiter
Kanal, der mit einem hohen Damm, der die Sicht nimmt, von dem Fluß getrennt ist.
Obwohl der Boden hier, in der Flußniederung, feucht sein müßte, ist die
Vegetation vollkommen vertrocknet, verbrannt: Der spärliche Grasbewuchs ist
gelb und trocken; ich
Weitere Kostenlose Bücher