Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
seit
Lausanne anhält. Jeder Quadratmeter Boden ist blankgeputzt, hat seinen
wohlsituierten Besitzer, und es ist schwer, hier auch nur Reste von Nato zu
finden. Seit Lausanne lief ich oft, wie kaum davor, auf Wohnstraßen, wo Villen
und Einfamilienhäuser den Rahmen des „Wanderweges“ gebildet haben.
Nach Überqueren der stark befahrenen
Autobahn erreiche ich den Vorort Pregny, der offensichtlich zu den vornehmeren
Adressen in Genf gehört. Zahlreiche große alte Landhäuser und Schlösser stehen
hier an parkartigen Grundstücken, von hohen Steinmauern mit Gittertoren
umgeben. Dieses Stadtviertel geht nahtlos in ein Terrain über, in dem Museen,
Botschaften und Repräsentationsbauten verschiedener internationaler
Organisationen die Szene bestimmen. Alle Männer, denen ich an der Straße
begegne, tragen Anzug und Krawatte, die Frauen Kostüme und hochhackige Schuhe.
Dazwischen ich, verschwitzt, mit Wanderstöcken...
Ich erreiche die Stadtmitte. Es ist wie
im Sommer: Auf der breiten Fußgängerstraße Rue du Mont-Blanc sind hunderte von
Tischen und Stühlen vor den Lokalen aufgestellt, und überall sommerlich
bekleidete Menschen. Auf der Sonnenseite der Straße ist es mir zu warm, ich
suche an der Schattenseite einen Platz. Wer hätte vor einigen Wochen gedacht,
daß mir die Wärme je zuviel sein könnte?
Da die Jugendherberge erst später
geöffnet wird, setze ich mich an die Ufer-Promenade und schaue mich um. Eine
bessere Unterhaltung könnte ein armer Pilger sich gar nicht wünschen.
Da ist die weite Bühne, der von Bergen
eingerahmte Genfer See mit den Segelbooten, die bei dem leichten Nordwind
auffallend gute Fahrt machen. Dann die langsam gleitenden Schwäne und die
flatternd-gaukelnden Enten. Die berühmte Fontäne, ein unwahrscheinlich hoher
Wasserstrahl, der in der Höhe vom Wind in eine Wasserstaubfahnen zerblasen
wird. Die breite Promenade vor mir ist von Spaziergängern, Fahrradfahrern,
Rollschuhläufern, Jungen, Alten, Musikern, Straßenkünstlern und Hunden bunt
bevölkert.
In der Jugendherberge ist
Massenbetrieb, ich bekomme ein Bett in einem vollbesetzten Sechsbettzimmer mit
Etagenbetten. Angesichts meines vorgeschrittenen Alters wird mir ein kleines
Privileg zugestanden: Ich darf unten schlafen. Kurze Zeit später werde ich im
Waschraum von zwei Kindern gerade wegen meines Alters verspottet. Kein Licht
ohne Schatten.
Am Abend versuche ich von der Stadt
einen flüchtigen Eindruck zu gewinnen; mehr ist in zwei, drei Stunden nicht
möglich. Ich bin nicht sicher, ob mir Genf so gut gefällt, wie es mir gefallen
müsste. Viele luxuriöse Hotels mit livriertem Neger als Türstehern; für diesen
Job finde ich diese Bezeichnung zutreffend. An jeder Straßenecke
Fastfood-Restaurants; allein die bekannteste Firma dieser Branche besitzt in
Genf sieben (!) Geschäfte. Und natürlich Banken, Banken, Banken. Wieviele
Banken braucht ein Mensch?
Samstag, am 12. April
Von Genève nach Bellegarde-sur-Valserine
Meine Zimmergenossen,
vier Australier und ein Tunesier, sind eigentlich ganz nett, aber bis sie alle
den Weg in die Schlafsäcke fanden, war die halbe Nacht vorbei. Danach wurde ich
von einem allergischen Niesen gequält, und als ich dann endlich doch noch
einschlief, kam ein Gewitter auf: Das Heulen des stürmischen Windes weckte mich
immer wieder von neuem. Als die jungen Männer um halb sechs aus den Kojen
sprangen, war für mich die Nacht und auch der Tag gelaufen. Beim Aufstehen habe
ich Kreislaufstörungen; ich muß mich wie auf einem schaukelnden Segelschiff
festhalten, damit ich nicht hinfalle.
Das Frühstück in der Herberge ist wenig
geeignet, meine Stimmung aufzuhellen: eine Scheibe Brot, je eine Portion Butter
und Marmelade, eine Tasse Muckefuck. Als ich eine zweite Scheibe Brot nehmen
möchte, wird mir diese Ausschweifung von einer Aufsichtsperson untersagt. Bei
dem Muckefuck wage ich gar keinen Versuch in diese Richtung zu starten, da ein
handgeschriebenes Schild dies sowieso verbietet. Ich esse lustlos mein karges
Frühstück und wundere mich, daß in der umweltpolitisch fortschrittlichen
Schweiz in den Jugendherbergen heute noch billiges Wegwerfbesteck aus Plastik
benutzt wird.
Vor dem Fenster des Speiseraumes blüht
der Flieder. Ich blicke auf einen von hohen Betonsilos umgebenen Hinterhof, wo
in einer tiefer liegenden Betongrube einige Fliederbüsche schmachten. Was mögen
die armen verbrochen haben?
Wieder brauche ich neue Wanderkarten.
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