Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
kann nicht einmal feststellen, ob es diesjähriges Gras
ist oder noch vom Herbst übriggeblieben. Auch die Büsche haben kaum Blätter
ausgetrieben. Merkwürdig. Ob die Pflanzen mit Unkrautvertilgungsmittel
behandelt wurden? Aber wozu?
Nach Rochefort wechsele ich über eine
Straßenbrücke auf die andere Flußseite hinüber. Inzwischen ist es so heiß
geworden, daß das Bitumen der Fahrbahndecke an meiner Stiefelsohle kleben
bleibt. Nach einem weiteren Kilometer auf dem glühenden Asphalt suche ich mir
einen Platz neben der Straße im Schatten der Bäume, dort lege mich hin und
falle nach wenigen Minuten in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich
aufwache, liege ich nicht mehr im Schatten, sondern in der prallen Sonne. Von
mir rinnt das Wasser, mein Gesicht und mein linkes Ohr brennt, sie haben zuviel
Sonne abgekriegt. Das auch noch!
Bis Belley sind es noch zwei Stunden zu
laufen. Ich brauche zwar eine kurze Zeit, bis meine Knochen sich bereit
erklären, sich bewegen zu lassen, aber dann fühle ich mich besser als vor der
Pause: Der Schlaf hat mir neue Kräfte gegeben.
Die letzten fünf Kilometer laufe ich auf
einem erholsamen Feldweg an der Rhône entlang. Von dem bewaldeten höher
gelegenen Uferstreifen lassen sich manche schöne Ausblicke auf die in der
Nachmittagssonne funkelnde Wasserfläche erhaschen.
Ich erreiche Belley, eine Stadt mit
achttausend Einwohnern. Eigentlich dürfte es hier kein Problem sein, eine
Unterkunft zu finden, aber ich bin seelisch und körperlich erschöpft und merke,
wie die Angst vor neuen Schwierigkeiten in mir aufsteigt. Ich lasse mir ein
kleines Spielchen einfallen: Wenn ich heute hier kein Zimmer bekomme, dann
nehme ich das als Beweis dafür, daß es nicht möglich ist, im östlichen
Frankreich im Monat April zu Fuß zu pilgern. Ich werde in diesem Fall meine
Reise augenblicklich abbrechen und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in Le
Puy-en-Velay fortsetzen. Auf dem Weg, der von dort weiterführt, hoffe ich,
weniger Probleme mit der Unterkunft vorzufinden.
Ich will nicht mehr. Ich brauche nur
noch einen Grund dafür, nichtwollen zu dürfen. Dies hier wäre so ein Grund. Das
Gefühl, angesichts der bevorstehenden, vielleicht auch herbeigesehnten Pleite
eventuell bald in meinem eigenen Bett schlafen zu können, kitzelt mich so, daß
ich innerlich lachen muß.
Am Rand der Stadt steht das „Hotel de
la Gare“. Es hat geöffnet, auch Zimmer haben sie, aber für eine Nacht wollen
sie es nicht vermieten. Recht so. Das nächste Haus, schon in der Stadt, ist
eins von einer Hotelkette für gehobene Ansprüche, für mich viel zu teuer. Dazu
muß man wissen, daß viele Häuser in Frankreich gar kein Einzelzimmer haben. Der
Zimmerpreis ist unabhängig davon, ob eine oder zwei Personen dort schlafen
möchten. Dies mag für ein Ehepaar günstiger sein als bei uns; für einen
Allenreisenden ist es das nicht.
Die Dame in dem Touristenbüro versteht
mein Problem und empfiehlt mir, es in dem „Maison Saint-Anthelme“ zu versuchen.
Es ist zwar kein Hotel, aber sie vermieten auch Zimmer für eine Nacht.
Das besagte Haus ist ein riesiges
schloßartiges Gebäude in zentraler Lage. Eigentlich ist es ein katholisches
Heim für alte Menschen und Studenten, die hier ständig wohnen. Ich bekomme ein
sehr geräumiges freundliches Einzelzimmer. Die einfachen Möbelstücke meines
Zimmers sind aus schwerer Eiche. Vor meinem Fenster liegt ein Park mit alten
Bäumen, dahinter im Tal fließt die Rhône. Ich bin über dieses Zimmer sehr
erfreut. Nach meinem heutigen Einbruch brauche ich etwas Zeit für Ruhe,
Besinnung, Neuorientierung. Vielleicht hilft es schon, wenn ich mich richtig
ausschlafe.
Das Abendbrot ist etwas kantinenmäßig,
aber ausreichend, es gibt sogar Rotwein dazu. Als angenehme Überraschung
betrachte ich meine dreiundzwanzigjährige Tischnachbarin, die perfekt deutsch
spricht und hier als Praktikantin in der Rezeption arbeitet. Und hübsch ist sie
auch, wenn ich in meinem Alter mir diese Bemerkung erlauben darf.
Dienstag, am 15. April
Von Beliey nach Aoste
Es war eine erholsame, ruhigeNacht in einem guten Bett, wie ich es mag. Nur mit den
Bettdecken, die in Frankreich benutzt werden, komme ich nicht klar. Anstelle
unserer gemütlichen, kuscheligen Bettdecken benutzen die Franzosen eine Decke,
die aus einem Bettlaken und einer Wolldecke besteht. Diese zwei Schichten
werden aufeinander gelegt und an drei Seiten so fest unter die Matratze
geklemmt, daß sie eher zerreißen
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