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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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mitzubringen ist aus Gewichtsgründen nicht
möglich gewesen. Von den 50.000er Karten, die ich benutze, habe ich von Kassel
bis Genf zwanzig Blätter gebraucht. Bis jetzt ist es mir immer gelungen, die
erforderlichen Blätter unterwegs zu erhalten. Bis jetzt. Obwohl ich mehrere
Buchhandlungen aufsuche, finde ich für meinen weiteren Weg in Frankreich nur
100.000er-Karten, für Wanderer ein viel zu großer Maßstab. Da ich Karten brauche,
kaufe ich sie. Auch Reiseproviant besorge ich mir. Meine Stiefelabsätze habe
ich auch wieder abgelaufen, ich lasse sie erneuern. Aus einer Apotheke hole ich
mir neue Fußcreme, die ich auf einer Parkbank sitzend sofort anwende, was
einige vorübergehende Passanten verwundert registrieren. Jetzt müsste ich mich
allmählich auf den Weg machen. Ich fühle mich aber unausgeschlafen, schwach,
schwindlig, elend. Den Rucksack kann ich kaum heben. Ich bleibe bis zum Mittag
auf der Bank sitzen. Es ist sonnig, wenn auch nicht annähernd so warm, wie es
in den vergangenen zwei Tagen gewesen ist.
    Mit der Zeit merke ich, wie eine
trotzige Wut in mir steigt. Was soll dieses wehleidige Getue? Wovon weiß ich,
daß ich nicht laufen kann, wenn ich es nicht probiere? Also los!
    Ich raffe mich auf und fange an, wie
ein Automat zu laufen. Links, rechts, links, rechts. Es wird schon gehen.
    Bemex, Laconnex, Landstraße pur. Ich
laufe mechanisch weiter. Erst bei Avusy, wo einige schöne schloßartige Gutshöfe
zu sehen sind, nehme ich meine Umgebung wieder wahr. Es ist eine schöne
Landschaft, die sich hier ausbreitet. Südlich von mir, hinter den abschüssigen
grünen Wiesen, sehe ich im Tal ein weites Waldgebiet, dahinter einen hohen
Bergrücken. Zwischen diesem Bergzug und dem von Norden kommenden, hier abrupt
abfallenden Jura bahnt sich in ein tiefer Einschnitt, der Fluß Rhône seinen Weg
nach Südwesten. Hinter Chancy, dem letzten Dorf auf Schweizer Gebiet, laufe ich
auf der Landstraße zu der Grenzbrücke hinunter. Ich bin schon ganz aufgeregt
und will mich an der Grenze mit der französischen Trikolore fotografieren
lassen, aber leider gibt es an dieser gottverlassenen Grenzstation nur einen
einsamen Zöllner. Eine Fahne, die für ein Erinnerungsfoto herhalten könnte, finde
ich weder hüben noch drüben. Mitten auf der Brücke bekomme ich plötzlich an
meiner rechte Bauchseite solche bestialischen Schmerzen, daß ich den Rucksack
augenblicklich absetzen muß. Ich kann mich gar nicht gerade hinstellen; ohne
Rucksack und in gekrümmter Haltung schleppe ich mich zum Ende der Brücke, wo
ich mich ins Gras lege. Nach einer Weile läßt der Schmerz etwas nach, ich kann
meinen Rucksack von der Brücke holen. Ich bin in Frankreich angekommen.
    Wie die Rettung in der Not erscheint
mir, hundert Meter hinter der Brücke, ein Gasthaus. Die paar Schritte schaffe
ich gerade noch!
    An der Eingangstür hängt das Schild: „ fermé“. Geschlossen. Das darf doch
nicht wahr sein! Ich kann keinen Meter weiterlaufen!
    Die Bar neben dem Hoteleingang ist
offen. Ja, sagt die Wirtin, heute ist Ruhetag, da ist nichts zu machen.
Übrigens ist das nächste Gasthaus ganz in der Nähe, in Collonges, es sind nur
fünf Kilometer.
    Was bleibt mir anderes übrig: Ich laufe
weiter. Alle meine Gelenke schmerzen, meine Beine und der Rücken sind
stocksteif, mein Bauch tut nach wie vor weh. Ich muß trotzdem weiter; hier, auf
der Wiese, kann ich nicht übernachten.
    Eine Stunde auf der Landstraße kann
elendig lang sein, besonders, wenn es die letzte Stunde eines langen
Wandertages ist. Dann ist es aber geschafft, Collonges ist erreicht. Ich frage
mich zum Gasthaus durch und kurz danach finde ich es. Endlich!
    Im Gastraum turtelt eine junge blonde
Frau, lasziv halb auf der Theke liegend, mit einem jungen Kerl. Ich störe sie
offensichtlich, aber nicht so sehr, daß sie deswegen voneinander lassen würden.
Nein, ein Zimmer kann sie mir nicht geben, heute ist Ruhetag. Das nächste
Gasthaus ist sechs Kilometer weiter. Oder acht? Jedenfalls vor einem Tunnel...
und sie küssen sich weiter, als ob ich nicht mehr existent wäre. Für sie bin
ich es auch nicht.
    Ich spreche alle Menschen, die ich an
diesem Samstagnachmittag auf der verlassenen Straße antreffe, an. Viele sind es
nicht. Helfen kann mir keiner. Das einzige Geschäft, das noch offen ist, ist
eine Apotheke. Ich bitte den Apotheker, für mich dieses besagte Gasthaus „vor
dem Tunnel“ anzurufen und zu fragen, ob ein Zimmer für mich frei wäre. Er tut
es gem. Ergebnis: Das

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