Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
braungebrannte Frau von Mitte Sechzig, mit Armen
und Beinen wie eine Bodybildnerin, kommt aus Ostfrankreich und will, wie ich,
nach Santiago de Compostela. Eine echte pèlerine superieure ! Wir unterhalten uns über meinen
langen Weg und sie fragen mich, ob es nicht schwer für mich ist, so allein zu
pilgern. „Wieso allein?“ frage ich, „Sie sind doch auch da!“ Ich nehme
Abschied; wir sehen uns am Abend in der Herberge.
Meine letzten Kilometer werden von dem
wilden Ballern von Jägern begleitet. Manchmal hören sich die Schüsse
beängstigend nah an. So bin ich froh, als ich die Stadt Lauzerte erreiche.
Lauzerte ist eine typische bastide. Diese befestigten Städte
sind am Anfang des Hundertjährigen Krieges von den Kriegsgegnern, sowohl von
Engländern als auch von den Franzosen, erbaut worden, um die Grenzen des
jeweiligen Territoriums zu markieren und zu schützen. Die Straßen dieser
meistens auf einer Anhöhe liegenden, mit Mauern und Türmen bewehrten Siedlungen
zeigen eine planmäßige Rasterstruktur. Die Ortsmitte wird von einem
quadratförmigen Platz eingenommen, der an allen Seiten von umlaufenden Arkaden
begrenzt ist. Neben diesem Platz steht die Kirche, die oft als letzter
Zufluchtsort diente und dementsprechend befestigt wurde. Damit sind die über
dreihundert heute noch existierenden bastiden, so auch Lauzerte, mehr oder
weniger genau beschrieben. Das würdige Alter dieser Städte, immerhin
siebenhundert Jahre, und die meistens sehr alte Bausubstanz stehen mit dem
planmäßigen, übersichtlichen, neuzeitlich anmutenden System der Straßen in
einem interessanten Spannungsverhältnis. Ich mag diese nur hier zu findende
Kombination von pittoreskem Mittelalter und heller Übersichtlichkeit.
In dem Gästebuch der Herberge finde ich
die gesuchten Eintragungen von meinen Pilgerbrüdern. Michel und Pierre sind vor
zwölf Tagen, Jack und Cees vor acht Tagen hier gewesen. Sie grüßen mich und
wünschen mir gute Reise.
Rita ist in Kassel gut angekommen. Die
Reise war lang und ermüdend, aber sonst ist zu Hause alles in Ordnung. Ob dies
auch für uns gilt?
Samstag, am 24. Mai
Von Lauzerte nach Moissac
Es nieselt. Um den Umweg des Pilgerpfades abzukürzen, bleibe ich auf der nach Süden
führenden Landstraße, die einen Bergrücken überquert. In dem Eichenwald oben
höre ich wieder die Jagdgewehre. Was gejagt wird, weiß ich nicht: Ich habe in
Frankreich bis jetzt kein einziges jagdbares Wild gesehen.
Der Regen hat aufgehört und als die
Wolken die Sonne freigeben, wird es schnell warm. Ich passiere das allein
stehende Gasthaus „Aube Nouvelle“, das von einem belgischen Ehepaar geleitet
wird. Ich kehre dort ein, um einen Kaffee zu trinken. Als erstes wird mir ein
Glas frisches Wasser vorgesetzt; zu dem Kaffee bekomme ich Kuchen und Teegebäck
als Gratiszugabe. Beim Abschied fragt mich der Wirt, ob ich meine Feldflasche
mit frischem Wasser auffüllen möchte. Ich bedauere es aufrichtig, bei diesen
freundlichen Menschen keine Übernachtung eingeplant zu haben. Es ist aber noch
früh am Tag, ich will weiter.
In Durfort-Lacapelette nutze ich die
Gelegenheit, ein Eis am Stiel zu essen. Sonst würde ich dies hier nicht
erwähnen, aber angesichts der hohen Mittagstemperatur ist das ein wahres
Erlebnis! Heute ist mit Sicherheit der heißeste Tag meiner bisherigen Reise.
Bald danach mache ich in einem
Apfelgarten Mittagsrast. Das Wiegenlied wird diesmal von den in dem nahen
Bauernhof heimischen Hühnern und Schafen gesungen.
Ich habe noch anderthalb Stunden zu
laufen. Obwohl der nach Süden führende schmale Asphaltstreifen ohne Verkehr und
gut zu laufen ist, sinkt meine Stimmung: Die Sorgen darüber, wie Rita sich von
mir entfernt hat, lasten wie Blei auf meiner Seele. Diese Entwicklung macht
mich traurig, ich verstehe sie nicht. Wie kann es sein, daß ich hundert
Menschen kenne, die alle mein Unternehmen schätzen, gut finden und mich
unterstützen, bis auf einen: meine Frau, die ich über alles liebe, die mich zu
dieser Pilgerreise ermutigt und mir dazu verholfen hat. Mit ihrem Rückzug hat
mein Weg den Sinn, den er am Anfang der Reise gehabt hat, verloren. Sicher war
das nie der einzige Sinn meiner Pilgerei und im Laufe der Zeit sind andere
Gründe entstanden und haben in ihrer Bedeutung zugenommen, aber der Hauptgrund,
meine Dankbarkeit über ihre Genesung in einer zugegebenermaßen unbeholfenen
Weise auszudrücken, meine Bringschuld für diese Gnade und dies Wunder zu
begleichen, ist absurd
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