Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
geworden. Ausgerechnet die Person, für die ich auf
diesen Weg ging, lehnt mich und meinen Weg ab!
Wenn ich wüßte, daß wir uns durch diese
Reise verlieren könnten, würde ich sie noch heute beenden. Ich bin aber
unsicher, ob ich die Situation richtig beurteile. Sind solche Unstimmigkeiten
nach so langer Abwesenheit normal? Hat diese Störung mit meiner Abwesenheit zu
tun? Ich weiß es nicht: Wir sind noch nie so lange voneinander getrennt gewesen.
Die Sorgen laufen mit, sie machen mich
müde.
Moissac, eine lebhafte Stadt mit
zwölftausend Einwohnern, verdankt seine über tausendjährige Bedeutung der im 7.
Jahrhundert gegründeten Benediktinerabtei, die als eine der Quellen von Wirtschaft
und Kultur im Südwesten Frankreichs diente. Die sichtbaren Zeugnisse der
Blütezeit im 11. und 12. Jahrhundert sind heute noch zu bewundern: die
Abteikirche mit dem berühmten Südportal und der Kreuzgang, für mich der
schönste Kreuzgang der Welt.
Erst suche ich die Herberge, die sich
in dem stattlichen Gebäude des Pfarrhauses befindet. Das Haus ist mit
Jugendgruppen gut besetzt, trotzdem bekomme ich ein Einzelzimmer. Über Qualität
und Sauberkeit schweigt des Gastes Höflichkeit.
Außer mir sind nur drei Pilger da:
Palma, die ich schon kennenlernte, und zwei junge Fußpilger aus Süddeutschland,
Horst und Dominik. Die beiden gehören zu den heute seltenen Pilgern, die auf
Grund tiefer Religiosität das Grab des Apostels besuchen wollen. Wir verbringen
den Abend gemeinsam bei Käse und Rotwein. Die jungen Männer strahlen eine
solche lebensbejahende fröhliche Zufriedenheit und Dankbarkeit aus, daß die
Stimmung auch die dunklen Wolken, die mein Gemüt eben noch verfinsterten,
allmählich aufhellen. Wir drei haben in den vergangenen Wochen Erfahrungen
gemacht, die sich gleichen und uns in einer Weise verändert haben, die wir noch
nicht fassen können.
Sie berichten übrigens, daß auch sie
vor Le Puy oft Schwierigkeiten hatten, Unterkunft zu finden. Da sie das Benutzen
von Fahrzeugen und die Vorbestellung von Unterkunft, als Pilgern unwürdig,
grundsätzlich ablehnen, mußten sie schon zweimal im Freien übernachten, was
ohne Zelt und bei Frost oder Regen ziemlich problematisch ist. So etwas würde
ich mir nicht mehr zutrauen.
Sonntag, am 25. Mai
Von Moissac nach Auviilar
Palma muß heute in Moissac bleiben: Ihre Achillessehne hat sich entzündet. Der Arzt hat
ihr drei Tage Ruhe verordnet, was sie übertrieben findet. Morgen oder
übermorgen holt sie mich ein, sagt sie. Sie ist sowieso verärgert darüber, daß
sie nicht so schnell vorankommt wie sie es gern hätte. Am Anfang ihrer Reise
ist sie jeden Tag fast vierzig Kilometer gelaufen; seit ihr der Fuß wehtut,
kommt sie kaum auf dreißig. Sie ist vierundsechzig!
Bevor ich Moissac verlasse, besuche ich
die Abtei St-Pierre. Die großräumige romanische Kuppelkirche wurde im 15.
Jahrhundert im gotischen Stil umgebaut. Die Grenze zwischen den beiden
Baustilen ist gut zu sehen: Sie verläuft, wie mit einem Lineal gezogen, in der
Höhe der niedrigen Empore.
Der wunderbare Kreuzgang, erbaut am
Ende des 11. Jahrhunderts, ist nur mit knapper Not der Vernichtung entgangen.
Im Jahre 1856 sollte dieser Edelstein der abendländischen Kunst der
Eisenbahnlinie Bordeaux-Sète weichen. Nach langen Verhandlungen wurde ein
Kompromiß gefunden: Zwar wurde ein Teil des ehemaligen Klosters, wie das
romanische Refektorium, abgebrochen, aber den Kreuzgang ließ man stehen. Heute
noch donnern die Züge mit hundert Stundenkilometern nur einen Meter von der
Kreuzgangsmauer entfernt vorbei.
Ich bin heute der erste und für kurze
Zeit der einzige Besucher. Obwohl ich vor Jahren schon einmal hier gewesen bin,
nimmt mir die stille Schönheit des Ortes den Atem. Was ist mit meinen Nerven
los? Mir fließen schon wieder die Tränen.
Für die Statistik: In dem vollständig
erhaltenen quadratförmigen Kreuzgang stehen Einzel- und Zwillingssäulen im
Wechsel. Alle siebenundsechzig an der Zahl, sind mit reichverzierten Kapitellen
versehen. Die meisten davon zeigen biblische Szenen, einige Pflanzenornamente.
Jeder einzelne dieser Säulenköpfe ist einmalig und verdient Bewunderung.
Es ist schon Mittag, als ich die Stadt
verlasse. Das Wetter ist grau, warm und sehr schwül. Die Wanderstrecke würde
eher zu einem Arbeitstag als zum heutigen Sonntag passen: Keine besonderen
Höhepunkte, keine Schwierigkeiten, nur flache zwanzig Kilometer. Über die
Hälfte dieses Weges begleitet mich der
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